Frédéric Brun ist auf dem Sprung. Am Tag nach unserem Telefoninterview beabsichtigt er, wegen des Coronavirus mit seiner Familie Paris zu verlassen. Der Gedanke, in der Stadt eingeschlossen zu sein, behagt ihm nicht. Dennoch nimmt er sich Zeit, spricht freimütig über seine Mutter Perla, die das Vernichtungslager Auschwitz überlebte, und seine Liebe zur deutschen Romantik. Bruns Roman Perla, für den er 2007 den Prix Goncourt du premier roman erhielt, erscheint jetzt erstmals in deutscher Übersetzung.
Herr Brun, »Perla«, ein Roman über Ihre Mutter, ist ein Buch der Trauer, ein Roman über den Verlust Ihrer Mutter. Erhofften Sie sich Trost durch das Schreiben?
Auf diese Weise konnte ich die Anwesenheit meiner Mutter symbolisch verlängern. Ich wollte auch eine Spur ihres Lebens bewahren. Ganz im Sinne des Schriftstellers der Schoa, Georges Perec: »Schreiben ist die Erinnerung an ihren Tod und die Bekräftigung meines Lebens.« Zur Erinnerung an meine Mutter gesellte sich der Gedanke, zentrale Ideen zur Poesie, zum Tod und zur Trauer zu übermitteln. Die Besonderheit meiner Trauer liegt in der außerordentlichen Belastungsprobe, die das Leben für meine Mutter bedeutete.
Der KZ-Arzt Josef Mengele gilt als Verkörperung des Teuflischen. Ihre Mutter Perla verschonte er vor dem Tod in der Gaskammer, wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit. Wie erklären Sie sich dieses Verhalten?
Das nennt man wohl Schicksal. Meine Mutter hat mir kaum etwas über ihre Deportation erzählt, abgesehen von ein paar Anekdoten. So erwähnte sie, dass sie einen Pickel im Gesicht hatte, den Mengele aber wohl als nebensächlich ansah und sie trotz dieses Makels auf die Seite derer, die überleben sollten, verwies. Im Übrigen war meine Mutter zwar schön, aber im Moment dieser Selektion sicherlich weniger als auf dem Foto. Es war jedenfalls ein Moment, der ihr Schicksal in einem einzigen Augenblick entschied. Gewiss ist aber, dass wir der Schönheit gegenüber nachsichtig sind. In außergewöhnlichen wie in Alltagssituationen.
Wie empfand Ihre Mutter dieses »Auserwähltsein«? Kannte sie Primo Levis Gedanken von der Schuld der Überlebenden?
Nein, meine Mutter sprach nie von der Schuld der Überlebenden. Vielleicht hat sie das so empfunden, schließlich litt sie unter Depressionen, sie hat aber nie darüber gesprochen. Womöglich liegt es auch daran, dass sie eine weniger lange Zeit in Auschwitz verbrachte als andere Deportierte. Sechs Monate. Ob sie eine längere Zeit überstanden hätte, mag man bezweifeln.
Sie preisen die Macht der Liebe. Vermag Liebe tatsächlich die Erinnerungen auszulöschen, zu retten?
Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, war das für sie sicherlich der Weg in ein liebevolles, glückliches Leben, da mein Vater ein sehr positiver Mensch war, vor allem ihr gegenüber. Beim Schreiben einer Liebesgeschichte verstärkt sich rückwirkend dieses Glück.
Perla litt ihr Leben lang unter Depressionen, schaffte es nicht, das Schweigen gegenüber ihrer Familie zu brechen. Wie sind Sie als Kind mit dieser Verschlossenheit umgegangen?
Meine Mutter hatte zwei Seiten: eine schwermütige und eine glückliche, zielstrebige. Sie war nicht diese traurige Frau, die es nicht geschafft hätte, ihr Schicksal zu meistern. In ihrem Charakter waren beide Seiten ausgeprägt. Ich erklärte mir ihr Schweigen so, dass sie mich vor dem Schrecken schützen wollte. Hinzu kommt, dass Juden in Frankreich damals möglichst unauffällig leben wollten. Das ging so weit, dass sie ihre Vornamen änderten. Meine Mutter nannte sich in Frankreich Paulette. Gefördert wurde diese Namensänderung auch vom Staat. Man wollte beim Neubeginn helfen, aber natürlich auch das Jüdische in den Hintergrund rücken.
Glauben Sie an die Übertragung von Traumata an die nächste Generation?
Bestimmt. Man kann unter den Traumata der Eltern, aber auch der Großeltern leiden. Oftmals ist es gar so, dass erst die Enkel die Vergangenheit aufarbeiten wollen. Die Schoa hat das jüdische Gedächtnis auf ewig markiert. Das ist unauslöschlich. Das Schicksal meiner Mutter prägte auch mein eigenes Leben. Ich bin sehr sensibel, habe depressive Phasen. Im Körper einer deportierten Frau heranzuwachsen, hat sich sicherlich auf mein Unterbewusstes ausgewirkt. Eine Art Schmerz dauert an und ist kaum in Worte zu fassen. Dennoch ist es meinen Eltern gelungen, mir eine glückliche Kindheit zu bescheren.
Ihr Verhältnis zu Deutschland ist zwiegespalten. Einerseits lieben Sie die deutsche Romantik, andererseits erfuhren sie auch Qual und Barbarei. Wie erleben Sie diese innere Spannung?
Ich war schon immer von Novalis und Hölderlin fasziniert, von der Finesse, der Feingeistigkeit der deutschen Romantik. Die Barbarei hat meine Mutter erlitten. Diesen Konflikt versuche ich immer wieder für mich zu lösen. Meist gelingt es mir aber, die Schönheit der romantischen Dichtung für mich persönlich in den Vordergrund zu rücken.
Im deutschen Ausdruck »sich entgrenzen« wähnen Sie den Kern von Romantik und Faschismus. Brauchen die Deutschen mehr Maß?
Uh la! »Seine Grenzen kennen« und »sich entgrenzen« zeigt sich im Unterschied von Goethe und Novalis. Während Goethes Message »Erkenne deine Grenzen« sehr bürgerlich und pragmatisch ist, tritt Novalis in Heinrich von Ofterdingen, dem »Anti-Meister«, für die Grenzüberschreitung, die Entgrenzung durch die Poesie, ein.
Wie sieht es mit der Mäßigung aus?
Also, ich frage mich, ob ich das Deutschland des 18. Jahrhunderts nicht besser kenne als das heutige. (lacht) Der Spannungen zwischen der AfD und dem Großteil der Bevölkerung bin ich mir natürlich bewusst. Es ist eine turbulente Zeit. Grundsätzlich kommen mir die Deutschen jedoch sehr rational und diszipliniert vor. Disziplinierter als die Franzosen auf jeden Fall. Eines ist gewiss: Entgrenzung gibt es nicht mehr in der Poesie.
Novalis’ »blaue Blume« ist ein Symbol für Sehnsucht. Wonach sehnen Sie sich, Herr Brun?
Im Französischen bedeutet »fleur bleue« etwas ganz anderes als Novalis’ »blaue Blume«. Man bezeichnet damit jemanden, der ein bisschen naiv ist. Für mich entspricht die »blaue Blume« der Idee von Novalis, das Universum befinde sich in uns selbst. Wenn man seine eigene Empfindsamkeit kennt, braucht man nicht zu reisen, man findet die Schönheit der Welt in sich selbst. Man betrachtet eine Blume oder eine Biene und wird sich der Schönheit gewahr. Die »blaue Blume« symbolisiert das Innenleben. Es ist bedauerlich, dass die deutsche Romantik so wenig bekannt ist in Frankreich. Was verbindet man heute mit Romantik? Candle Light Dinner? Mit der Romantisierung und der Poetisierung der Welt in der deutschen Romantik hat das nichts zu tun.
Frédéric Brun: »Perla«. Roman. Faber & Faber, Leipzig 2020, 128 S., 20 €
Das Gespräch führte Ute Cohen.