Frau Tuttle, es ist Ihre erste Berlinale als deren Leiterin – im 75. Jubiläumsjahr, nach dem politischen Skandal des vergangenen Jahres, mitten im Wahlkampf, mit finanziellen Einschnitten, und Sie müssen 1000 Filme sehen. Wie geht es Ihnen?
Es war ein sehr anstrengendes und wildes Jahr. Es war eine Herausforderung, aber es ist auch eine Ehre und eine Freude. Ich liebe Filmfestivals. Und das hier ist eines der besten der Welt. Aber ich wusste, dass es nicht einfach wird, wir leben in schwierigen Zeiten. Der 7. Oktober 2023 war ein Paradigmenwechsel für uns alle. Und mit den Gesprächen auf der vergangenen Berlinale und der Debatte danach wurde mir etwas vererbt, mit dem ich nicht gerechnet habe.
Sie wurden sechs Wochen nach dem 7. Oktober berufen. Sie sahen als Beobachterin, wie sich der Skandal - die antiisraelischen Ausfälle auf der Bühne und daneben - entfaltete. Haben Sie für Ihre Arbeit etwas daraus gelernt?
Eine Million Dinge! Ich habe im vergangenen Jahr bestimmt 50 Prozent meiner Zeit damit verbracht, mit Menschen darüber zu reden, was passiert ist. Die größte Lektion ist, dass diese Themen überall eine komplexe Debatte auslösen, aber in Deutschland noch einmal mehr. Und dann auf diesem Festival, das dafür berühmt ist, politisch zu sein. Doch wenn man bei der Gala eine Person nach der anderen über Mitgefühl für die Menschen in Gaza reden hört, aber niemand erwähnt den Schmerz auf der anderen Seite, niemand erwähnt den Schauspieler David Cunio, der vor zwölf Jahren auf der Berlinale war …
Und der noch immer Geisel in Gaza ist.
… dann denke ich, dass das Festival versäumt hat, dem Raum zu geben. Das hat sehr viele Menschen verletzt. Dabei wollen wir ein Festival für alle sein. Das war es im vergangenen Jahr nicht.
Ist der Film »Michtav LeDavid«, über das Schicksal Cunios, ein Eingeständnis?
Zum Teil. Aber vor allem ist es ein wichtiger Film, und das wäre er auch ohne die Debatte. Es ist solch ein persönlicher, intimer Brief von Regisseur Tom Shoval an David Cunio, eine Erinnerung an ihren Film »Youth«, der 2013 bei der Berlinale Premiere hatte. Unabhängig vom Film werde ich mich dafür entschuldigen, dass wir letztes Jahr nicht die Stimme erhoben haben.
Sie wollen sich auf dem Festival für den Skandal entschuldigen?
Es geht nicht um die Debatte, es ist eine persönliche Entschuldigung bei David Cunio und seiner Familie.
Haben Sie Sorge, dass es auch dieses Jahr antiisraelische oder sogar antijüdische Aktionen auf dem Festival geben könnte?
Wissen Sie, viele Diskussionen verlieren zunehmend an Komplexität, und deshalb werden die Leute mehr und mehr polarisiert. Das heißt, dass es für die Kultur immer schwieriger wird. Ich sorge mich auch um die jungen Menschen in der Welt, die sich radikalisieren, weil sie meinen, nicht sprechen zu dürfen. Wir müssen diese Leute zusammenbringen, und wir müssen uns komplexen Debatten stellen. Wir dürfen keine Angst davor haben. Natürlich müssen wir sehr wachsam sein und gegen Antisemitismus aufstehen, aber wir dürfen das Gespräch nicht abbrechen, das Gefühle und Meinungen der Menschen ändern könnte. Wir müssen die Diskussion in der Mitte aushalten, damit es die Leute nicht an die Ränder zieht. Denn das schadet nicht nur der Kultur, sondern der ganzen Gesellschaft. Wir erleben gerade eine besonders schwierige, aufgeheizte Zeit. Wir werden sie überstehen – wenn wir miteinander reden.
Haben Sie einen israelischen Lieblingsfilm?
Ich mag die Filme von Talya Lavie. Ich hoffe, da kommt bald wieder was.
Mit der neuen Berlinale-Chefin und ehemaligen Leiterin des London Film
Festival sprach Sophie Albers Ben Chamo.