Herr Baddiel, Ihr Buch »Jews Don’t Count« ist in Deutschland unter dem Titel »Und die Juden?« erschienen. Sind Sie damit zufrieden?
Nun, ich bin über diese Frage in ständigem Kontakt mit meinem Verlag gewesen. Dort hat man mir sehr geraten, das Buch nicht »Juden zählen nicht« zu nennen. Der Verlag war sehr besorgt, ob dieser Titel nicht etwas zu stark gewesen wäre. In Großbritannien und in den USA kam er gut an. Es ist ein Hashtag bei Twitter, den Menschen nutzen, wenn sie Dinge bemerken, über die ich im Buch schreibe. Ich finde, dass der Originaltitel es wesentlich spezifischer auf den Punkt bringt. »Und die Juden?« – das klingt doch schon viel allgemeiner und breiter gefasst. Dabei könnte es sich um vielerlei Dinge drehen.
Wenn wir beim Original bleiben: Für wen zählen Juden nicht?
Der Originaltitel ist offensichtlich ironisch gemeint. Er beschreibt eine Haltung, die das Buch zu analysieren versucht, die zeigt, was falsch läuft und was geändert werden muss. Es heißt ja nicht »Jews don’t count«, so, als sei das meine Überzeugung, sondern Juden zählen nicht für die Progressiven, die Linken und Leute, die von Identitätspolitik besessen sind. In Großbritannien gab es vielleicht drei Menschen, die mir gesagt haben, dass sie etwas Sorge hätten, das Buch in der Öffentlichkeit zu lesen, denn der Titel könne womöglich allzu wörtlich verstanden werden.
Von der Diskussion um den passenden Titel einmal abgesehen – weshalb haben Sie dieses Buch geschrieben?
Ich habe in Artikeln, online oder in meiner Arbeit als Comedian bemerkt, dass wir uns schon seit geraumer Zeit in einer Phase befinden, in der wir uns viele Gedanken um Minoritäten machen. Die politische Debatte dreht sich darum, dass man sehr besorgt über diese oder jene Minderheit sein muss, denn sie sind benachteiligt, entrechtet in vielerlei Hinsicht, sodass wir uns um sie kümmern müssen. Und mir ist aufgefallen, dass Juden nicht Teil dieser Diskussion sind. Es kam mir so vor, als ob viele Leute der Meinung seien: Antisemitismus, der ist doch längst vorbei. In Großbritannien wird häufig so argumentiert, dass man sich doch schließlich auf der richtigen Seite der Geschichte befand. Aber die Geschichte hat uns gelehrt, dass es ein Fehler ist, Judenhass aus dem Auge zu verlieren. Es geht hier nicht um Nazis oder die extreme Rechte, die sind da, sie erstarken wieder, sie sind online, verbreiten Gewalt. Es geht nicht um den traditionellen Antisemitismus.
Es geht aber darum, was Leute nicht sagen.
Ja. Und für wen sie nicht einstehen.
Können Sie sich erklären, weshalb Menschen der Meinung sind, es gäbe keinen Antisemitismus mehr?
Ich denke, da spielen die Auswirkungen der Mythen und des Verschwörungsglaubens, die wir bei der extremen Rechten beobachten, eine große Rolle. Also die Meinung, dass Juden reich sind, dass sie privilegiert, mächtig und weiß sind. Und dass sie demzufolge nicht in gleicher Weise wie andere Minderheiten geschützt werden müssten. Das Seltsame ist ja, dass sich Rassisten Juden sowohl als Untermenschen, als Fremde und gleichzeitig auch als Herren der Menschheit, als Kontrolleure der Welt und als die Reichen und Mächtigen hinter politischen Machenschaften vorstellen. Vom Niedersten zum Höchsten. Nur Juden werden mit Macht in Verbindung gebracht. Es gibt auch andere Gründe: Israel ist einer davon. Und alles, was die Linke dem Land in die Schuhe schieben will. Und dann wäre da noch diese gewisse Langeweile und Ermüdung bei jungen Leuten, die Antisemitismus für etwas halten, das meinen Eltern oder Großeltern widerfahren ist. Es ist nicht nur dieses Vergessen von diesem und jenem. Es ist ein Vergessen, das Judenhass schürt. Und das schafft einen Raum, in dem es irgendwie in Ordnung zu sein scheint, allerhand verächtliche Dinge über Juden zu sagen.
In den vergangenen Jahren – und besonders während der Corona-Pandemie – gab es in Deutschland einen konstanten Anstieg antisemitischer Übergriffe. Wie ist die Situation in Großbritannien?
Hier haben wir die sehr besondere Situation, dass die Labour Party aktiv in Verbindung mit Antisemitismus gekommen ist. Zum allerersten Mal, und das war sehr beängstigend, gab es Judenhass als Überschrift in den Zeitungen, in großen Zeitungen. Man las Dinge wie »Die jüdische Gemeinschaft befürchtet …«. Und ich dachte, die Tendenz der Linken, sich nicht für Antisemitismus zu interessieren, aber doch sehr aktiv antizionistisch aufzutreten, hat dazu geführt, dass vieles verschwommen ist. Verschwommen zwischen dem, was auch immer sie denken oder tun, und Antisemitismus auf der anderen Seite. Zum ersten Mal war die jüdische Gemeinschaft in Großbritannien, die sehr klein ist – nicht so klein wie die in Deutschland, aber klein –, bedroht. Und ich muss sagen, dass sie wirklich zurückhaltend ist. Das kritisiere ich auch in meinem Buch. Und nun musste sie sich zum ersten Mal gegen die Labour-Partei zu Wort melden, die Antisemitismus ignoriert und Juden nicht als wichtiges Thema gesehen hat. Und ja, auch hier hat die Pandemie ihre Spuren hinterlassen. Auch hier gab es diese »Ungeimpft«-Sticker. Und während der jüngsten Auseinandersetzung zwischen Gaza und Israel gab es vieles, bei dem der Unterschied nicht gesehen wurde.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Bei einer Gaza-Demonstration trug ein Teilnehmer ein Bild von Jesus am Kreuz, auf dem stand: Lasst sie das nicht wiederholen! Und ich fragte mich: Soll das ein Anti-Israel-Statement sein? Die israelische Regierung gab es 33 n.d.Z. noch gar nicht. Also richtete sich diese Aussage, nach deren Mythos die Juden Jesus getötet haben, ganz klar gegen Juden. Und ein relativ bekannter Redner sagte: »Wenn Israel die Besetzung beendet, dann wird es keinen Antisemitismus mehr geben.« Ich dachte mir: Ja, klar, sicher. Da muss man ja nur einen Blick in die Geschichte werfen. Denn, Moment, da war doch noch etwas, kurz bevor der Staat Israel gegründet wurde? Dieses riesige antisemitische Ding im Krieg? Also mal ganz ehrlich: Die Vorstellung, dass etwas Antisemitisches nur passieren kann, weil es Israel gibt, schafft diese Wahrnehmung, dass Judenhass irgendwie nachvollziehbar sei. Und in den vergangenen 15 Jahren ist die Toleranz für Antisemitismus enorm gestiegen.
Weshalb sind einige Menschen heutzutage offenbar nicht mehr in der Lage, richtig über das nachzudenken, was sie zum Besten geben?
Sie denken einfach nicht genug nach. Und gerade Antisemitismus kann trügerisch sein. Vielleicht ein Beispiel: Ich bin derzeit gerade auf Tour mit meiner Show. Nach einem Auftritt kam ein Mann zu mir und sagte: »Hören Sie, ich bin ein Linker, ein Arbeiter aus Liverpool, ich habe Ihr Buch gelesen, und dadurch wurde mir klar, dass so vieles antisemitisch ist.« Etlichen Menschen in Großbritannien ist nicht klar, dass die Aussage »Juden sind reich« ein antisemitisches Klischee ist. Sie denken: Ach so, sie sind reich, na dann, viel Glück. Aber sie begreifen nicht, was in dieser Aussage steckt. Es gibt keine Erhebung darüber, ob und wie reich Juden im Vergleich zu anderen sind, aber allein die Vorstellung davon erzeugt den Gedanken, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht und man ihnen etwas wegnehmen muss. Und das ist seit mehr als 2000 Jahren der Fall. Aber Leute verknüpfen das nicht miteinander, sondern sagen es, ohne darüber nachzudenken.
Sie haben aktuell rund 780.000 Follower bei Twitter – und in Ihrer Beschreibung steht ein einziges Wort, nämlich »Jew«, Jude.
Ja, und dabei bin ich Atheist, ein ziemlich strenger sogar. Vielleicht schreibe ich darüber mein nächstes Buch. Aber für mich steht das für Ethnizität, für Kultur, aber auch für Antisemitismus. Ich bin in der Öffentlichkeit sogar jüdischer geworden.
Wie sind Sie aufgewachsen?
Das ist etwas kompliziert. Meine Mutter und meine Großeltern sind vor den Nazis geflohen und haben zu Hause sehr viel Jüdisches einfließen lassen. Wir haben Pessach, Chanukka und Rosch Haschana bei meinen Großeltern gefeiert. Ich war auf einer orthodoxen Grundschule, hatte Hebräischunterricht. Meine Eltern haben mich wohl dahin geschickt, weil es die nächstgelegene Schule war – und weil sie dachten, dass ich dort wahrscheinlich nicht verprügelt werden würde. Mein Vater ist ein Arbeiter aus Wales. Sein Großvater floh aus Russland vor den Pogromen. Juden fliehen irgendwie immer. Ich hatte also diese Mischung vor mir aus meinem Vater, dem Religion gleichgültig war, und meiner Mutter, der Religion alles andere als egal war. Ich war in einer zionistisch-sozialistischen Jugendgruppe, die mich sehr geprägt hat. Es ist vielleicht wie bei allen jüdischen Identitäten: Es ist kompliziert.
Sie haben kürzlich in einem Artikel darüber nachgedacht, Deutscher zu werden.
Ja, aber auch das ist kompliziert. Ich muss so viele Dokumente zusammenbekommen, um zu beweisen, dass ich deutscher Herkunft bin. Was man bedenken muss: Meine Familie ist mit ganz wenigen Dokumenten geflohen. Doch ich versuche es, obwohl ich durchaus etwas zwiegespalten bin. Aber ich bin gegen den Brexit und wäre gern Europäer.
Sie haben erwähnt, dass die jüdische Gemeinschaft in Großbritannien eher zurückhaltend ist. Können Sie sich das erklären?
Ich führe das teilweise auf die »Britishness« zurück. Es ist vielleicht in anderen Ländern anders, in den USA ganz anders. Aber wenn Juden sich assimilieren, dann nehmen sie Gewohnheiten des Landes an, in dem sie leben. Und diese Britishness ist eben eine gewisse Reserviertheit. Großbritannien ist das einzige Land in Europa, in dem es nie eine gewalttätige Revolution gab, vom Englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert einmal abgesehen. Großbritannien war niemals unter einer Diktatur. Es ist ein politisch eher »weiches« Land. Und die Generation, die den Krieg hinter sich hatte, die fliehen musste, hatte einfach nur Angst. Wir haben gerade einen Zensus, und ich habe mich über einen Punkt gewundert. Es gibt unter der Rubrik Ethnizität zwar viele kleine Kästchen, aber keines für »jüdisch«. Die Verantwortlichen für den Zensus haben gesagt, als sie dazu Recherchen anstellten, hätten sich Juden dagegen ausgesprochen. Sie wollten nicht, dass der Staat erfasst, wer Jude ist und wer nicht. Denn das hatte Hitler mit ihnen gemacht.
Und Sie sind dafür, im Zensus »jüdisch« zu erfassen?
Ja! Es geht um Empowerment! Man muss sichtbar werden. Und ich denke, um Rassismus zu bekämpfen, braucht man den Rückhalt durch die Herkunft.
Welchen Rat möchten Sie jungen Jüdinnen und Juden geben, wie sie mit ihrer Identität umgehen sollten?
Ich bin sehr gerührt, wenn ich höre, wie sehr das Buch jüngere Juden verändert hat. Ein 19-jähriger Student, der sehr aktiv ist in Arbeitskreisen gegen Rassismus und für Minderheiten, hörte ab und an Dinge, die klar antisemitisch waren, und hat nun – nach langem Schweigen – für sich beschlossen, diese Dinge anzusprechen. Ich denke, dass zu viele Juden immer noch der Meinung sind, sie hätten nicht das Recht, Judenhass anzusprechen. Und das trifft ganz besonders auf junge Juden zu.
Mit dem Autor sprach Katrin Richter.
David Baddiel: »Und die Juden?«. Hanser, München 2021, 130 S., 18 €