Herr Toscano, am 9. November wird Ihre Ausstellung »Gegen das Vergessen« eröffnet. Mit welchem Gefühl blicken Sie auf den Tag?
Die Nervosität ist noch nicht da, aber sie kommt langsam. In Berlin auszustellen, hat eine immense Bedeutung für mich. Es rührt mich. Ich habe auch ein bisschen Angst, aber ich freue mich, weil ich viele positive Reaktionen auf das Projekt erhalten habe. Susan, eine Schoa-Überlebende, die in Berlin geboren wurde und heute in North Carolina lebt, sagte mir: »Wenn ein paar Altnazis diese Bilder sehen würden, würden sie sehen: ›Uns habt ihr nicht gekriegt.‹« Susans Porträt zeige ich auch in Berlin.
Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, Schoa-Überlebende zu fotografieren?
Alles begann eigentlich schon in der Schule. Ich war auf einer Hauptschule, und mein Geschichtsunterricht war nicht so gut gestaltet. Vielleicht habe ich mich deswegen als Jugendlicher auch mit dem Thema Schoa auseinandergesetzt, um eben Dinge zu lernen, die mir der Unterricht nicht vermitteln konnte. Als 18-Jähriger fuhr ich allein nach Auschwitz und war schockiert. Später, als ich schon Fotograf war, habe ich mich dann wieder mit dem Thema befasst. Denn es hat mich interessiert, wie Menschen auf Gesichter reagieren, die im öffentlichen Raum ausgestellt sind. Und ich hatte bereits durch ein anderes Projekt – ich habe Flüchtlinge fotografiert – gesehen, dass sich Menschen für deren Geschichte interessieren und mehr erfahren möchten.
Wo sind Sie den Zeitzeugen begegnet?
Ich hatte es am Anfang schwer und stieß zunächst auf viel Ablehnung. Es war ein schwieriger Weg, mein Konzept vorzustellen. In Mannheim gibt es eine Gedenkstätte, und dort hatte ich Gelegenheit, Schoa-Überlebende zu treffen. Ich erzählte ihnen von meinem Projekt mit den Flüchtlingen. Die älteren Herren sahen sich das an und gaben mir grünes Licht, sie zu fotografieren. Von da an war es leichter, mein Konzept zu vermitteln, und plötzlich haben sich Menschen von überall her bei mir gemeldet. Einen Anruf werde ich wohl nie vergessen: den von Horst Sommerfeld. Er sagte: »Ich habe von Ihrem Projekt erfahren. Ich habe Auschwitz überlebt und würde mich gern für ein Foto anmelden.« Das war unvergesslich.
Welche Begegnung ist Ihnen nachhaltig in Erinnerung geblieben?
In der Ukraine traf ich Anna. Sie war ein »Versuchskind« von Josef Mengele. Wir haben uns bei ihr zu Hause getroffen. Viele Schoa-Überlebende leben in Armut oder ärmlichen Verhältnissen. Anna machte auf mich einen sehr stabilen Eindruck. Sie erzählte dann, wie sie ins Lager kam, dass ihre Eltern sofort umgebracht wurden und an ihr medizinische Versuche durchgeführt wurden. Noch viele Jahre nach dem Krieg, als Anna bereits in einer Pflegefamilie lebte, hatte sie Angst vor Ärzten. Sie schrie nicht, aber sie verkroch sich. Ich hörte ihr zu, plötzlich ergriff sie meinen Arm und sagte: »Luigi, ich habe es denen gezeigt, denn ich bin Medizinerin geworden.« Die Art, wie diese Frau durch ihre Angst gegangen ist und wie sie ihr Leben gemeistert hat, beeindruckt mich sehr.
Was sehen Sie, wenn Sie in die Gesichter der Schoa-Überlebenden blicken?
In diesen kurzen Momenten war ich ihnen allen sehr nah. Ich konnte ihre Blicke spüren und ihre Gesichter eben nicht nur durch die Kamera sehen. Es sind schöne Gesichter: Ich habe Annas Tapferkeit gesehen, Horsts Mut, aber eben auch die Spuren, die ihr Leben bei ihnen hinterlassen hat.
Wir sind im Jahr 2017, viele Zeitzeugen sind hochbetagt, viele bereits gestorben. Wie wird sich die Gesellschaft an die Schoa erinnern, wenn es keine Menschen wie Anna und Horst mehr gibt?
Meine Angst ist, dass es irgendwann heißt: »Das waren die Nazis und nicht wir im heutigen Deutschland.« Und ich befürchte, dass wir auf dem Weg dahin sind. Es wird viel verdrängt. Außerdem habe ich große Bedenken, wie dieser Teil der deutschen Geschichte in der Schule aufbereitet wird. In einer Studie kam kürzlich heraus, dass viele Jugendliche mit dem Begriff »Auschwitz« nichts anfangen können. Das ist erschreckend.
Was könnte Pädagogen und Schülern helfen, das Thema Schoa im Unterricht ausführlicher und zeitgemäßer zu behandeln?
Wir müssen uns mehr Mühe geben und neue Wege gehen. Ich hatte viele Begegnungen mit Jugendlichen und habe erfahren: Schüler haben keine Lust, in eine Gedenkstätte zu gehen. Eine App ist für sie interessanter. Damit könnten sie forschen, und erst danach gehen sie vielleicht zu einem Gedenkort. Vielleicht sollte das Gedenken multimedialer sein. Es gibt zu meinem Projekt beispielsweise auch eine App, und wir hoffen, dass unser Film »Gegen das Vergessen« auch auf der Berlinale 2018 gezeigt werden wird.
Sie werden Ihre Ausstellung im Januar auch im Gebäude der UN zeigen.
Ja, die Porträts werden im Foyer gezeigt. Und ich kann es selbst noch nicht so ganz glauben. Außerdem darf ich meine Bilder auch in Washington am Lincoln Memorial zeigen. Das freut mich sehr.
Mit dem Fotografen sprach Katrin Richter.
www.gegen-das-vergessen.gdv-2015.de
Vom 10. bis zum 26. November bieten Volontäre des Hauses der Wannsee-Konferenz 30-minütige Führungen auf Deutsch, Englisch, Hebräisch, Arabisch, Französisch oder Spanisch zur Ausstellung und den dargestellten Personen an. Die Führungen sind unentgeltlich. Informationen und Anmeldung unter: gdvtours@gmail.com