Frau Meerapfel, neulich wurde Ihr audiovisueller Essay »Moving Sand / Topos« über künstliche Intelligenz in der Akademie der Künste gezeigt. Sie erwähnen die Versteigerung eines Algorithmus-Kunstwerks bei Christie’s, das für mehr als 400.000 Dollar unter den Hammer kam. Ist das eine bedrohliche Entwicklung?
Es ist nicht bedrohlich, es ist ein Fakt. Das heißt, dass die »alte« Kunst infrage gestellt wird, dass die Authentizität eines Werkes infrage gestellt wird. Letztlich wird klar, dass allein die improvisatorische Form von Kunst »nur« von Menschen kommen kann.
Können und müssen Künstler gegensteuern?
Die gesamte Zivilgesellschaft muss sich darüber klarwerden, ob und wie der künstlichen Intelligenz und ihren Anwendungen ethische Grenzen gesetzt werden.
Sie selbst haben in Ihrem Essay mit Smartphone-Bildern gearbeitet. Sehnen Sie sich trotzdem manchmal nach der Zeit des analogen Telefons zurück?
Nein, auf keinen Fall.
Nehmen Sie Ihr Smartphone mit, wenn Sie in den Urlaub fahren – oder gönnen Sie sich Medien-Auszeiten?
Ich mache nie einfach nur Urlaub, sondern ich schreibe, filme etc., auch wenn ich Berlin verlasse. Und ich habe mein Smartphone immer bei mir. Falls ich es nicht zu Hause vergesse.
Ende Mai haben die beiden neuen Leiter der Berlinale ihr Amt angetreten. Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Internationalen Filmfestspiele Berlin?
Es wäre mir sehr wichtig, dass die Auswahl des Wettbewerbs stärker in einem künstlerischen Bereich liegt. Dass man etwas wegnimmt von dem, was so ein bisschen Talmi ist, also Kitsch. Manchmal verfällt das in eine Art Zirkus, was nicht unbedingt sein muss. Denn die Berlinale ist ein wichtiges, großes Festival, das drittgrößte A-Festival, und das Profil sollte noch künstlerischer werden.
Wie war es für Sie, Ihren ersten Spielfilm »Malou« von 1981 wieder bei der Berlinale zu sehen?
Ich habe den Film neu digitalisiert. Das heißt, ich saß zwei Tage lang und bin Szene für Szene nochmal durchgegangen mit der Coloristin, und dann geht man wirklich in die Tiefe. Der Film ist ein Stück meiner Geschichte, ein Stück meiner Karriere, meines Lebens. Insofern ist es ein geliebtes Kind.
Schön an diesem Film ist vor allem das langsame Tempo. Denken Sie manchmal bei neueren Filmen, dass durch Technik und Effekte auch etwas verloren geht?
Es kommt ganz auf die Geschichte an. Es gibt Filme, die mir gut gefallen und die sehr, sehr schnell erzählt werden. Oder die viel mehr mit technischen Mitteln umgehen. Einer der Filme, die mir in den letzten Jahren am besten gefallen haben, ist Roma von Alfonso Cuarón, der Anfang der 70er-Jahre in Mexiko-Stadt spielt und mit drei Oscars ausgezeichnet wurde. Dieser Film, ganz in Schwarz-Weiß, hat ein langsames Tempo. Das ist ein wunderbarer Film, und der brauchte auch Zeit, um erzählt zu werden. Es kommt ganz darauf an, was Sie erzählen wollen und wie Sie erzählen wollen.
Journalisten und Zuschauer wollen – nicht nur bei »Malou« – immer wissen, ob Ihr Thema autobiografisch ist. Haben Sie Lust, auf solche Fragen zu antworten?
Ganz ehrlich: Nein. Wissen Sie, man macht einen Film, und es sind immer Stücke von einem selbst drin. So oder so. Egal, ob es versteckt oder offen ist. Ich könnte einen Vampirfilm machen, und es würde auch um mich gehen. Weil es immer etwas gibt, was einen mit dem Film verbindet, wenn man selbst das Drehbuch schreibt.
Estrongo Nachama, der frühere Oberkantor der Synagoge Pestalozzistraße in Berlin, hat in »Malou« mitgewirkt. Wie war die Zusammenarbeit?
Toll. Der hatte eine solche Power. Ich hatte ihn gebeten, diese Rolle zu spielen, und er hat sofort zugesagt. Er hat mich auch beraten, nicht nur für die Konversionsszene, sondern auch für die Szene der Hochzeit, und hat darauf geschaut, dass wir nichts Falsches machen. Damals waren die jüdischen Hochzeiten ein bisschen anders als heute.
Als Sie 2015 Ihr Amt als Präsidentin der Akademie der Künste antraten, stand in Zeitungen, Sie seien »Feministin, aber keine Quotenfrau«. Ist das eine Definition, die Ihnen zusagt?
Ach, wissen Sie, diese Parolen und Slogans …. Dazu habe ich überhaupt keine Beziehung. Ich bin Jeanine Meerapfel, und ich bin ein genauso komplexer Mensch wie Sie. Ich habe verschiedene Facetten, und die alle repräsentiere ich natürlich. Ich bin eine Frau, und jetzt bin ich Präsidentin der Akademie, aber diese Bezeichnungen, die mir wie ein Etikett angeheftet werden, die mag ich nicht so gerne.
Aber was hat es Ihnen bedeutet, die erste Frau an der Spitze der Akademie der Künste zu sein?
Ich habe mich sehr gefreut. Erstens dachte ich, dass die, die mich gewählt haben, natürlich eine Frau wollten. Aber sie wollten mich als Person und das, was ich repräsentiere. Ich war ja schon im Senat, und da kannten mich viele schon in meiner künstlerischen und politischen Haltung. Ich hoffe, dass sie mich nicht nur gewählt haben, weil ich eine Frau bin!
Sie sind im Mai 2018 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden und könnten auch noch ein drittes Mal kandidieren. Oder denken Sie noch nicht so weit in die Zukunft?
Ich denke noch nicht darüber nach. Das hat Zeit. Aber ich habe mich sehr gefreut, als sie mich wiedergewählt haben. Das war eine überwältigende Mehrheit.
Ihr Büro hier am Pariser Platz direkt am Brandenburger Tor ist beeindruckend. Wenn man hier arbeitet, bekommt man dann das Gefühl, sehr viel Einfluss zu haben? Haben Sie das Gefühl, durch ihre Arbeit politisch etwas bewegen zu können?
Ja, das Gefühl haben wir schon. Nicht so sehr durch die Architektur oder den Platz, sondern einfach, weil die Akademie der Künste exzellente Künstler darstellt, die alle etwas bewirken mit ihrer Kunst. Das ist eine große künstlerische Kraft, aber auch eine gesellschaftliche Kraft.
Wie wichtig ist das für Sie in Zeiten, wo die AfD stärker wird – eine Partei, die bei der Europawahl Ende Mai in Sachsen und in Brandenburg stärkste politische Kraft geworden ist?
Das beschäftigt mich sehr, und wir fragen uns jeden Tag hier, was wir machen können, um die Demokratie zu schützen und gegen diese rechten, populistischen und rassistischen Haltungen anzugehen.
Wie hat sich der Umgang mit »Ausländern« seit dem Film »Malou« in Deutschland verändert – was ist Ihre Erfahrung?
Es gab unterschiedliche Zeiten. Auch in den 90er-Jahren gab es enorme Angriffe auf Ausländer, das ist nichts Neues. Wir nehmen es heute nur stärker wahr, weil es jetzt diese Partei gibt, die sich so stark präsentiert. Das macht uns allen Angst, und man denkt nach: Was bedeutet das? Was verändert das in unserer Gesellschaft? Und eigentlich wollen wir nicht, dass die tatsächlich in der Lage sind, etwas zu verändern.
Auch Antisemitismus tritt wieder stärker in Erscheinung. Haben Sie in Ihrem persönlichen Umfeld gemerkt, dass sich etwas verändert?
Die Beschäftigung mit dem Antisemitismus verändert einen. Ich habe keine stärkeren antisemitischen Angriffe gegen mich erlebt, glücklicherweise, aber ich weiß, dass es sie gibt. Es gibt sie in Schulen, wo Kinder von Freunden von uns und Kinder von Mitgliedern der Akademie gemobbt worden sind, weil sie jüdisch sind, hier in Berlin. Diese Dinge sind natürlich schrecklich, und man überlegt immer, was passiert, wenn es in diesem Land ökonomische Probleme gibt. Wie verändert sich dann die Gesellschaft? Bis jetzt ist es eine Minderheit, die antisemitisch agiert, aber es ist schon sehr problematisch. Überhaupt ist Rassismus in dieser Gesellschaft sehr problematisch. Wir versuchen, dagegen anzugehen mit allen Programmen, die wir machen. Aber es ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
Machen Sie auch Programme mit Jugendlichen?
Nicht direkt. Aber wir haben unser kulturelles Vermittlungsprogramm KUNSTWELTEN. Wir gehen mit Künstlern, mit Akademie-Mitgliedern, in Schulen, auch im Osten der Republik und in sogenannte Problemschulen, und arbeiten mit den Schülern. Diese Arbeiten sollten dazu führen, dass eine bessere Form der Verständigung entsteht. Da wird ganz konsequent Erziehung durch die Kunst praktiziert.
Sie haben an der Hochschule für Gestaltung in Ulm studiert. Wie haben Sie in den 60er-Jahren die schwäbische Stadt erlebt?
Wir lebten ein bisschen in »splendid isolation« auf dem Kuhberg in Ulm, aber ich mochte die Stadt. Sie war mir fremd, aber ich war neugierig, und ich erlebte die Fremdheit nicht als bedrohlich, sondern als spannend. Für mich war alles neu. Das Schwäbische habe ich nicht verstanden, aber ich verstand sowieso kein Deutsch. Ich musste ja Deutsch lernen.
Und wann waren Sie das letzte Mal in Untergrombach in Baden, wo die Familie Ihres Vaters herkommt?
Vor mehr als einem halben Jahr.
Sie fahren öfters dorthin?
Ja, es gibt Leute, die ich da besuche. Und es gibt auch eine filmische Arbeit, und da bin ich nach Untergrombach gefahren, um einen alten Herrn zu interviewen, den meine Familie noch kannte.
Einen Dokumentarfilm?
Ich weiß es noch nicht.
Aber er spielt in Untergrombach?
Nein. Er spielt in unterschiedlichen Orten. Aber ich werde Ihnen nichts mehr dazu sagen! Ich weiß es noch nicht, weil ich noch nicht das Geld habe, um den Film zu machen.
Es ist sicherlich auch nicht leicht, neben Ihrer Arbeit als Präsidentin der Akademie noch einen Film zu drehen …
So ist es.
Jetzt mache ich einen Themensprung. Was halten Sie von der Frauenquote in Parlamenten?
Die finde ich gut.
Wenn man bei der nächsten Bundestagswahl vorschreiben würde, dass 50 Prozent der Abgeordneten Frauen sind, dann wären Sie dafür?
Warum nicht?
Warum sind Sie dafür?
Weil es normal ist, dass Frauen wie Männer in Parlamenten arbeiten. Eine Quote finde ich aber weniger notwendig als Gerechtigkeit. Ehrlich gesagt dachte ich, dass wir über Film sprechen und nicht über Politik.
Was ist Ihr wichtigstes Ziel in den nächsten zwei Jahren?
Ich habe viele Ziele. Eines der wichtigsten Ziele ist sicherlich, dass wir in der Lage sind, den europäischen Gedanken in der Öffentlichkeit weiter zu etablieren. Mit »wir« meine ich die Mitglieder der Akademie der Künste. Etwas anderes ist, dass wir versuchen, über die verschiedenen Aktionen darauf aufmerksam zu machen, dass wir alle etwas tun müssen, um diese Gesellschaft vor Hass, vor Trennung und vor Rassismus zu schützen.
Mit der Filmemacherin und Präsidentin der Akademie der Künste sprach Ayala Goldmann.