Haya Molcho

»Ich koche, also bin ich«

Die Wiener Gastronomin über Geschmack der Kindheit, Frauen als Managerinnen und das Arbeiten mit der Familie

von Louis Lewitan  10.10.2021 19:48 Uhr

»Wer stehen bleibt, wird überholt und geht unter«: Haya Molcho Foto: Molcho / pr

Die Wiener Gastronomin über Geschmack der Kindheit, Frauen als Managerinnen und das Arbeiten mit der Familie

von Louis Lewitan  10.10.2021 19:48 Uhr

Haya, eine Frage, die mich schon immer interessiert: Ist Kochen ein Handwerk, eine Kunst oder ein Geschäft?
Das Ganze lässt sich nicht voneinander trennen. Zunächst einmal ist es Handwerk. Die Grundlagen sind unglaublich wichtig, erst dann kommt die Kochkunst, und das Ganze muss schließlich gemanagt werden. Ich bin keine ausgebildete Köchin, dieses Versäumnis musste ich daher nachholen. Als ich anfing, dachte ich aber: Man muss nur begabt sein und Leidenschaft haben, und schon kann man kochen. Heute denke ich anders.

Was heißt denn Kochkunst?
Beim Kochen geht es vor allem um das große Thema der Identität. Also: Wie kreiere ich einen einzigartigen Stil? Kochen hat sehr viel mit einem selbst zu tun. Die große Herausforderung beim Kochen ist: Wie gelingt mir, das, was mich ausmacht, umzusetzen? Jeder und jede von uns ist von den Eltern, von der Kultur, wie und wo wir aufwachsen, beeinflusst. So wie du dich im Leben weiterentwickelst, so lernst du hoffentlich beim Kochen eine persönliche Handschrift zu entwickeln, und das macht einen glücklich.

Das geht weiter als Descartes’ Leitsatz: »Ich denke, also bin ich.«
Genau, in meinem Fall habe ich Descartes leicht abgewandelt: Ich koche, also bin ich. Wenn die Gäste all das, was ich und meine Köche zubereiten, auch genießen, dann bin ich glücklich.

Welche Rolle spielt das Managen?
Ein guter Koch muss auch managen können. Du musst alles planen, organisieren und Kosten und Preise im Auge behalten. Tatsache ist: Kein Koch, keine Köchin kann alleine bestehen. Jenseits von Gewürzen und Soßen geht es darum: Wie gut geht man mit dem Personal um, ist das gesamte Team richtig aufgestellt, wie freundlich werden die Gäste bedient, habe ich Vertrauen und kann delegieren? Letztlich müssen in allen NENI-Restaurants Service, Ambiente, Qualität und Preise stimmen. Meine Kinder und ich bilden das NENI-Team. Wir nutzen unsere Stärken und gleichen unsere jeweiligen Schwächen aus. Ohne meine Kinder Nadiv, Ilan, Elior und Nuriel wäre ich nie so weit gekommen, ich könnte das alles alleine niemals schaffen.

Welche Einflüsse haben dich als Köchin geprägt?
Ich wuchs in Israel auf. Mein Vater, ein Zahnarzt und Feinschmecker, nahm mich immer mit zum Markt. Damals gab es in Israel keine Praxen und Kliniken, so er ist zu den arabischen Dörfern und Kibbuzim gefahren, hat Zähne behandelt oder gezogen. Anstelle von Geld bekam er oft Lebensmittel. Meine Mutter war immer schockiert, wenn er auf der Vespa das ganze Gemüse und Obst in unsere kleine Wohnung mitbrachte. Einmal waren es 100 Wassermelonen.

Wie hat sie reagiert?
Wir hatten keinen Platz, sie alle zu lagern, und so habe ich von ihr als Kind gelernt, wie man Wassermelonen einlegt, sie mit Schafskäse zubereitet oder grillt. Der Res­pekt für Lebensmittel prägt mich noch heute. Mir wurde von früh an beigebracht, Essen miteinander zu teilen. Zu uns kamen Familienangehörige und Nachbarn, denn niemand verdiente so viel Geld, dass er so großzügig einladen konnte wie damals mein Vater.

Welche Erinnerungen hast du an deine Kindheit in Israel?
Diese Zeit war prägend, wir lebten in Tel Aviv direkt neben dem Carmel-Markt. Jeden Freitag nahm mein Vater seine kleine Haya zum Einkaufen mit. Es war für mich das Schönste. Mein Vater wusste genau, was gute Qualität ist. Ist die Tomate nur schön? Oder ist sie auch reif? In Tel Aviv war die Welt meine Nachbarschaft: Links waren polnische Immigranten, rechts waren russische, über dem Markt lebten die Jemeniten. Wir Kinder sind auf der Straße aufgewachsen, wir waren immer am Meer. Wo immer ich hinkam, gab es eine exotische Geschmacksnote aus einem mir unbekannten Land. Wo sonst findet man eine derart eklektische Weltküche wie in Israel?

Was genau meinst du damit?
Ich denke vor allem an den libanesischen und palästinensischen Einfluss. Ich bin mit Hummus und Falafel aufgewachsen. Zwei Minuten von der Schule gab es den besten Falafel-Stand, ich habe mich täglich nach ihm gesehnt. Das ist der Geschmack meiner Kindheit. Nach unserem Umzug nach Bremen haben wir jedes Jahr Israel besucht. Wenn die Verwandten uns am Flughafen abholten, bekam ich immer einen Maiskolben und Cassata, eine Art Sandwich-Eis, den Geschmack habe ich noch heute im Mund. Das sind die Sehnsüchte und Erinnerungen meiner Kindheit. Und wann immer Verwandte aus Israel kamen, brachten sie einen Koffer voll mit Hummus, knackigen Gurken zum Fermentieren und Maiskolben mit. Das fühlte sich an wie Chanukka und Weihnachten zusammen.

Du kamst als Kind nach Bremen, wie war für dich der Umzug aus Tel Aviv?
Im eiskalten Winter 1964, ich war keine elf Jahre alt, kam ich mit meiner Mutter und meinem Bruder nach Deutschland. Es war ein Schock. Alles war fremd: das Wetter, die Kleidung, die Sprache. Ich war die Glücklichste, als mein Vater, der schon ein Jahr zuvor nach Bremen gegangen war, wieder da war. Daheim sprachen wir Hebräisch, Rumänisch, Englisch und Deutsch. Meine Eltern waren traditionell. Sie legten Wert auf die Feiertage und darauf, dass wir den Schabbat hielten, die Kerzen anzündeten und gemeinsam aßen.

Kulinarisch war der Umzug wohl auch eine Umstellung?
Und ob! Es war schon ein Kulturschock. In unserer Straße gab es einen Tante-Emma-Laden. Die Deutschen, die dort einkauften, konnten nur bis eins zählen. Sie fragten nach einem Brot, ein bis maximal zwei Scheiben Käse und Schinken. Wenn mein Vater einkaufen ging, hieß es auch immer eins oder zwei, aber Kilo, bitte schön! Zu Gast bei deutschen Familien hatten wir Hemmungen, etwas von der Platte zu nehmen. Wir haben dann beschlossen, vor Einladungen immer zu Hause zu essen. In Israel zeigt man, das kann ich mir leisten, ich bin großzügig und teile mit anderen. In Deutschland und Österreich hieß es: Schau, wir schmeißen nichts weg, wir sind sparsam und essen diszipliniert.

Hast du als Kind aus Tel Aviv in Bremen je Antisemitismus erfahren?
In meinem Freundeskreis nicht. Meine Mutter hat für alle gekocht, und die haben das geliebt. Ich hatte auch Glück, dass ich blond und blauäugig war und wie Heidi aussah. Das hat mir aber bei meinem Lehrer namens Kocker nicht viel geholfen. Er war ein absoluter Nazi und hasste mich. Einmal hat er vor der versammelten Klasse gesagt: »Mit allen rede ich, mit dir rede nicht.« Meine Noten wurden derart schlecht, dass meine Eltern intervenieren mussten. Am Ende musste der Lehrer gehen. Einen Tag später wurde auf meinen Tisch ein Hakenkreuz gemalt, das weiß ich noch genau. Erst, als der Schüler von der Schule flog, ging es wieder bergauf.

Wir sprachen zu Anfang von Identität beim Kochen, an welche Einflüsse denkst du genau?
Es ist vor allem der Einfluss dieser »Middle East«-Küche, damit identifiziere ich mich am meisten. Fermentation habe ich von meiner Mutter gelernt. Heute fermentiere ich Kimchi, Gurken oder grüne Tomaten. Für das NENI habe ich Fässer aus Rumänien mitgebracht, darin lege ich Gurken ein. Der arabische Einfluss sind die Karotten, Blumenkohl, Cavolo, gemischt mit Amba und Salz. Ich lasse mich aber auch von der spanischen und japanischen Küche inspirieren.

Du lebst in Österreich. Wie definierst du deine Identität?
Ich bin eine Israelin, die in Österreich lebt und die Kultur hier sehr schätzt. Ich habe die israelische Küche nach Wien gebracht. Ich bin ein offener Mensch, der sich für Menschen, für ihre Kultur und Küche begeistern kann. Ich war erst 50, als ich mein erstes Restaurant am Naschmarkt eröffnete. Der Naschmarkt war eine reine Männerwelt. Ich war neu dort und gar eine Frau mit vier Söhnen. Es herrschte eine strenge, männerdominierte Hackordnung. Als Fremde, als Frau und Mutter musste ich mich mit dem Teil am Naschmarkt begnügen, wo es damals nur Drogen und Ratten gab. Es war harte Arbeit, die Kontakte zu den Gemüse-, Fleisch- und Fischhändlern aufzubauen. Wenn das eine oder andere fehlte, habe ich mich an meinen Vater und Israel erinnert. Ich bat die Händler, doch bitte alles aufzuschreiben, so wie es früher üblich war. Ob Essen, Lebensfreude und Ambiente, ich habe Tel Aviv zum Naschmarkt gebracht.

Wie hast du es geschafft, in dieser männerdominierten Branche zu überleben?
Ich hatte Glück, einen Mann wie Samy zu heiraten, der Frauen respektiert und schätzt. Er kommt vom israelischen Militär, wo Frauen und Männer gleichberechtigt dienen. In Wien am Naschmarkt hatte ich als Frau schon Probleme. Es ging auch um Neid, Eifersucht, Rezepte wurden kopiert, Personal wurde abgeworben. Es war frauenfeindlich, ich wurde nicht begrüßt oder gar akzeptiert. Uns wurde nichts gegönnt oder geschenkt. Aber das alles ist Vergangenheit. Die Konkurrenz schätzt uns, und dank des NENI haben die Händler am Naschmarkt viele Kunden bekommen.

Du hast dich gegen eine männerdominierte Konkurrenz durchgesetzt, bist aber auch aus dem Schatten deines Ehemannes, des weltberühmten Pantomimen Samy Molcho, herausgetreten. Wie ist dir das gelungen?
Es war lange Zeit schwierig, weil ich erst meine Identität entwickeln musste. Ich bin 18 Jahre jünger als Samy, und als wir uns kennenlernten, war er schon ein Weltstar. In der Welt der Hautevolee bekam ich nur Schweißausbrüche, und wenn eine Kamera auftauchte, verschwand ich immer. Ich habe Samy sieben Jahre auf Tourneen begleitet. Überall, wo wir waren, in China, Marokko und Indien, bin ich in die Küchen gegangen und habe dort mit den Köchen zusammengearbeitet, auf Märkten eingekauft und gemerkt, wie gerne ich das mache. Zurück in Wien, beschloss ich, ein Catering zu machen und meine Gäste auf eine kulinarische Weltküche mitzunehmen.

Warum ist es für Frauen so schwierig in der Gastronomie?
Frauen waren immer die Köchinnen und gehörten angeblich hinter den Herd, so als ob sie zu nichts anderem taugten. Das ärgert mich noch heute. Selbst heute bereiten die Frauen alles vor. Der Mann geht an den Grill, trinkt ein Bier, dreht einmal, zweimal ein Steak um, und alle bejubeln ihn. Da frage ich: Habt ihr sie noch alle? Heute grille ich, und Samy bereitet vor. Nein, wir sind schon ein Team. Aber letztlich stimmt es: Gastronomie ist hart, eine schwere Tag- und Nachtarbeit. Da haben es die Mütter eindeutig schwer.

Das NENI ist ein Familien-Business, du bist Mutter und Chefin zugleich. Hat sich die Familiendynamik dadurch verändert?
Als jüdische Mamme, die immer für meine vier Kinder da war, war ich immer am Planen und Organisieren. Im Grunde steckt in jeder Mutter eine Managerin. Wenn ich gefragt wurde, was ich beruflich mache, habe ich verlegen gemurmelt, ich sei selbstständig. Ehrlich gesagt, ich hatte schon meine Komplexe. NENI betreibt inzwischen zwei Restaurants in Wien, wir sind in München, Köln, Hamburg, Berlin, Paris, Zürich, Amsterdam und Mallorca. Unser Glück ist, dass ich und meine Söhne uns ergänzen und in der Firma alle Seiten abdecken, von Kochen über Marketing bis Finanzen und Strategie.

Wie definierst du Erfolg?
Der gemeinsame Nenner besteht aus einer guten Ehe, einer Familie, die zusammenhält, und finanziellem Erfolg, der durch harte Arbeit hinzukommt. Früher habe ich für andere gekocht, aber nie Geld verlangt. Samy sagte mir aber: Solange du kein Geld verlangst, wird man nicht wirklich wertschätzen, was du machst. Das musste ich erst lernen. Einmal wollte eine enge Freundin, dass ich für 200 Leute ein Essen organisiere. Ich wollte keine Bezahlung, mein Nein hat sie nicht akzeptiert. Erst, als sie auf einen anderen Caterer zuging, habe ich zugesagt. Das war der Anfang meiner Karriere.

Und wie ging es vom Catering zur gefeierten Köchin weiter?
Ich habe angefangen, mit jungen Köchen und dem Live Cooking, das gab es damals noch nicht. So hat sich mein Name etabliert. Bei den NENI-Restaurants muss man inzwischen reservieren. Unser Konzept ist einfach: Wir sind großzügig, wir sind für jeden Gast da, unsere Nahrungsmittel sind eins a, unsere Preise sind fair. Unser Slogan ist »Komm nach Hause, bevor du nach Hause gehst«.

Das klingt wie aus der Werbung. Gibt es keine Beschwerden?
Klar gibt es Beschwerden. Der Unterschied ist: Wir lernen daraus. Als Gastronom musst du einstecken können, aus Feedback lernen und dich stets weiterentwickeln. Wer stehen bleibt, wird überholt und geht unter. Selbst in Corona-Zeiten muss man sich weiterentwickeln, flexibel bleiben und nicht aufgeben.

Das leuchtet ein, aber in deinem letzten Buch »Wien. Food, People, Stories« stellst du auch andere Spitzenköche, also auch Wettbewerber, aus Wien vor. Warum?
Wir sind nicht die Einzigen, die sehr gut sind, und wir sind nicht die Besten. Das Gönnen und Miteinander teilen, sich austauschen, dieses Partnerschaftliche gibt weit mehr, als Neid und Eifersucht jemals können. Du kannst 1000 Rezepte hergeben, aber letztlich ist es deine Handschrift, die zählt. Sei originell, und die Gäste werden kommen.

Mit der Gastronomin sprach Louis Lewitan. Beide sind seit Jahren miteinander befreundet.

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