Als sich Demokratie- und Wirtschaftskrise zunehmend verschärften, trat die Weimarer Republik in eine Kriegsphase ein. Zumindest literarisch. Im Zuge der »Wiederkehr« des Endes des Ersten Weltkriegs erschien 1928/29 eine Flut von Kriegsbüchern und -romanen von Autoren, die weit links standen wie etwa Ludwig Renn, oder von hypernationalistischen Rechtsextremisten wie Ernst Jünger.
Nur wenige waren Humanisten wie Edlef Köppen (Heeresbericht). Der erfolgreichste unter ihnen war der Sportjournalist Erich Paul Remark alias Erich Maria Remarque. Dessen Roman Im Westen nichts Neues, der Ende Januar 1929 im Propyläen Verlag, der zum Ullstein-Konzern gehörte, erschien, wurde zum Weltbestseller. Der S. Fischer Verlag hatte im Jahr davor Teile des Manuskripts gelesen und eine Veröffentlichung abgelehnt.
Dafür hatte der Verlag in der Bülowstraße 90 in Berlin-Schöneberg im Jahr 1926 ein anderes Kriegsbuch herausgebracht. Und zwar Peter Flamms Ich?. Dessen andere Romane Heimfahrt zum Tode, 1928 im winzige Berliner Wasservogel Verlag erschienen, und der 336 Seiten lange Du? von 1929, sowie auch sein letzter Roman Ich will leben von 1931 sind dermaßen in Vergessenheit geraten, dass sie nicht einmal antiquarisch aufzuspüren sind.
Erich Mosse gehörte einer bekannten Zeitungsverlegerfamilie an
Davor hatte der 1891 geborene Flamm, der eigentlich Erich Mosse hieß, einer bekannten Berliner Zeitungsverlegerfamilie angehörte und studierter Arzt war, Feuilletons und Theaterstücke verfasst und als Bühnendramaturg gearbeitet. 1933 floh Mosse/Flamm nach Paris. 1934 entkam er aus Europa in die USA und ließ sich in New York als Psychiater nieder.
Unter seinen Patienten: William Faulkner. Unter seinen Hausgästen: Albert Einstein und Charlie Chaplin. 1959, vier Jahre vor seinem Tod, kehrte er kurz nach Deutschland zurück und hielt in Frankfurt auf einer Konferenz des PEN einen erhellenden Vortrag, der dieser Neuedition von Ich? im S. Fischer Verlag mitgegeben ist.
Bedauerlicherweise verfiel Verlagslektor Sebastian Guggolz – im Nebenberuf Verleger eines nach ihm selbst benannten Hauses, das sich seit 2014 einen Namen als Wiederentdeckungshort skandinavischer und mittelost- wie osteuropäischer kaum beachteter moderner Klassiker machte – fürs Nachwort auf folgende Idee: Er ließ Senthuran Varatharajah, Autor zweier Romane, ein pseudo-expressionistisch von sich selbst berauschtes Nachwort schreiben. Viel interessanter wäre gewesen, Ich? literarisch zu situieren, zwischen Alfred Döblin, Franz Kafka, Ernst Weiß und der Affäre Martin Guerre, einer Doppelgänger-Historie aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts (plus Max Frischs Mein Name sei Gantenbein).
»Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund«
»Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund.« Mit diesem starken Satz setzt Flamms atemlose Prosa ein. Anfang November 1918 beugt sich der Frankfurter Bäcker und Soldat Wilhelm auf den verwüsteten Feldern des nordfranzösischen Douaumont über einen Toten, stiehlt ihm die Ausweispapiere, wird ein anderer, schlüpft in die Haut des Mediziners Hans.
Mit dem Waffenstillstand zieht es ihn nach Berlin, zu Grete, Hans’ Frau. Es entwickelt sich zu einer Schauergeschichte à la E. T. A. Hoffmann zuzüglich zweier Teile Sigmund Freud. Denn alle akzeptieren ihn als Hans – nur er selbst nicht. Oder war er immer Hans gewesen – und Wilhelm eine Fiktion? Wer war der Tote bei Verdun?
Bedrängend ist Flamms gehämmerte, vor Panik vibrierende Sprache. Angesichts des Schlachtfelds heißt es: »Hier liegt Europa, hier liegt die Menschheit, hier bin ich, hier liege ich, hier liegt mein Leben.« Psychoanalyse und Pathologisches, beliebt in den 1920er Jahren – man denke an Roberto Arlt –, Identität und Verstörung, all das findet sich in diesem seinerzeit hochgelobten, erstaunlich aktuell anmutenden Roman.
Peter Flamm: »Ich?«. Roman. Mit einem Nachwort von Senthuran Varatharajah. S. Fischer, Frankfurt 2023, 160 S., 22 €