Interview

»Ich höre ihn durch seine Bücher«

Tovia Ben-Chorin Foto: Stephan Pramme

Herr Rabbiner Ben-Chorin, Ihr Vater Schalom Ben-Chorin war Religionsgelehrter, Journalist und Publizist; er hat Dutzende von Büchern veröffentlicht. Hatte er für Sie denn auch Zeit?
Ja, zum Mittagessen um 13.30 Uhr war er immer zu Hause. Es konnte eine noch so wichtige Pressekonferenz sein – er ist aufgestanden und hat gesagt, wenn bis ein Uhr nicht die wichtigsten Nachrichten da sind, dann gehe ich jetzt nach Hause. Mein Vater hatte einen sehr regulierten Tagesablauf. Er hat auch immer Zeit gehabt, am Schabbatnachmittag mit mir spazieren zu gehen. Wir sind in einem kleinen Wald in Jerusalem gewesen und sprachen sehr oft miteinander.

Sie sind 1936 in Jerusalem geboren. Ihre Eltern haben sich Anfang der 40er-Jahre getrennt. Hat das Ihr Verhältnis zum Vater beeinflusst?
Ich habe bis zu meinem elften Lebensjahr bei meinem Vater gewohnt, und dann habe ich darum gebeten, bei meiner Mutter zu leben. Aber zum Schabbat und zu den Feiertagen kam ich immer wieder nach Romema zum Haus meines Vaters. Meine Stiefmutter Avital Ben-Chorin hat mich sehr nett aufgenommen, und so lebte ich in zwei verschiedenen Häusern. Vielleicht hat mich das zum liberalen Judentum gebracht. Denn meine Mutter hat die Tradition nicht gehalten.

Überhaupt nicht?
Wenn ich einmal ein Wochenende bei ihr zu Hause war, dann war nur in meinem Zimmer Schabbat. Sie hat in ihrem Zimmer geraucht und gezeichnet. Aber wenn wir am Schabbat in meinem Zimmer gegessen haben, war ein wunderschöner Tisch gedeckt, mit gutem Essen, und ich habe den Kiddusch gemacht. Als ich etwa 14 Jahre alt war, wurde mir klar, dass es gut ist, dass meine Mutter ein Kind hat, aber dass sie eigentlich für die Ehe nicht geeignet war.

Das heißt, Ihre Mutter war über die Trennung von Ihrem Vater nicht unglücklich?
Nein, sie war erlöst! Am Anfang war sie in der Ehe wohl glücklich gewesen, aber schauen Sie, es war nicht sehr leicht, mit meinem Vater zusammenzuleben.

Warum?
Aus meiner Sicht war mein Vater sehr egozentrisch. Nicht egoistisch – er war großzügig, aber er hatte seine Lebensform, und jeder in der Familie musste sich daran anpassen. Sonst hätte er nicht 30 Bücher und Tausende von Essays und Artikeln geschrieben, zig Vorträge und Vorlesungen an Universitäten in Deutschland gehalten; alles das, ohne ein Abitur zu haben und ohne die Universität zu beenden, was er wegen der Nazis nicht mehr konnte.

Wie haben Sie Ihren Vater im Umgang mit anderen Menschen erlebt?
Wenn Besuch kam und er vorher beschlossen hatte, dass der Besucher genau eine Stunde und 15 Minuten bleiben soll, dann ist er nach Ablauf dieser Zeit aufgestanden und hat gesagt: Bevor ich schlafen gehe, öffne ich das Fenster, um etwas zu lüften. Meine Schwester ist in die Luft gegangen: Wie kann man so etwas sagen! Aber er meinte: Man kann das sehr gut sagen, und die Leute kommen auch wieder zu Besuch.

Ihr Vater hat 1958 die Reformsynagoge Har El in Jerusalem mitbegründet. Wie ist es dazu gekommen?
Nach meinem Militärdienst in Israel ging ich mit meinem Vater in die liberale Synagoge »Emet ve-Emuna« in Jerusalem, und da habe ich zu meinem Vater gesagt: Papa, ich kann mit dir nicht mehr zum Gottesdienst gehen. Mein Vater war erstaunt und fragte: Warum? Und ich sagte: Wir beten Dinge, an die wir beide nicht glauben – wie die Auferstehung der Toten oder den Aufbau des Tempels. Wir wollen doch keine Opfer mehr! Und da sagte mein Vater: Gut, fangen wir etwas Neues an! Und so wurde die Har-El-Synagoge gegründet. Zuerst war sie in einem Privathaus im Stadtteil Rechavia und später in der Shmuel-Hanagid-Straße.

Ihr Vater hat sich in seinen Werken zum jüdisch-christlichen Dialog sehr viel mit der Gestalt von Jesus auseinandergesetzt und ihn als seinen »jüdischen Bruder« bezeichnet. Manchen gehen solche Formulierungen zu weit – Ihnen auch?
Nein, zu weit geht er mir nicht. Denn das, was mein Vater formuliert hat, drückt auch Marc Chagall in seinen Zeichnungen aus. In diesen frühen Bildern der 20er-Jahre sieht man in vielen Schtetln eine Kirche. Chagall nimmt jüdische Symbole wie Tallit und Tefillin und legt sie Jesus am Kreuz an. Das ähnelt dem, was mein Vater in seiner Theologie unternommen hat.

Schalom Ben-Chorins bekanntestes Motto im jüdisch-christlichen Dialog lautete: »Der Glaube Jesu verbindet uns, der Glaube an Jesus trennt uns.« Können Sie sich dem anschließen?
Als Motto ist das ausgezeichnet. Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen meiner Auffassung und der von Schalom Ben-Chorin, aber eine These meines Vaters nehme ich ganz klar an: Die Diskussion um Jesus war zunächst einmal eine innerjüdische Diskussion.

Ihr Vater hat einst gefordert, das Esther-Buch aus dem Kanon des Tanach, der Hebräischen Bibel, herauszunehmen. Ihm missfiel, dass die Juden sich an ihren Feinden rächten, nachdem sie der von Haman geplanten Vernichtung entgangen waren. Stimmen Sie ihm zu?
Ich unterstütze das nicht, denn ich glaube, dass wir alle Rachegefühle haben. Lieber gebe ich sie in der Synagoge offen zu, als zu sagen: In der Synagoge bin ich ganz rein, und was draußen passiert, ist nicht meine Sache. Übrigens ist mein Vater jedes Jahr knirschend in die Synagoge gegangen und hat die Esther-Rolle mitgelesen. Das ist das Schöne bei ihm. Das ist diese jüdische Dialektik, die so lebendig ist.

Ist Ihnen Ihr Vater, obwohl er schon vor 14 Jahren gestorben ist, immer noch präsent?
Er hat Angst vor dem Tod gehabt, weil er seinen eigenen Vater verloren hat, als er zehn Jahre alt war. Das saß bei ihm sehr tief. Wir hatten eine enge Freundschaft, wir konnten auch über private Dinge und Gefühle sprechen – obwohl ich nicht alles über ihn wusste. Aber wenn ich ihn heute lese, dann höre ich ihn durch seine Bücher, und das ist ein fantastisches Gefühl.

Mit dem Berliner Rabbiner sprach Ayala Goldmann.

Am 20. Juli wäre Schalom Ben-Chorin 100 Jahre alt geworden. lesen Sie dazu unseren Artikel »Ein Leben für den Dialog«

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