Buch

»Ich hasse kein Volk«

»Ein gutes Buch, auch wenn es nicht gelesen wird, wird eines Tages auf irgendeine Weise einen Leser finden«: Marcel Reich-Ranicki Foto: Imago

Auf die Frage, ob gute Bücher, die gekauft werden, auch gelesen werden, antwortet Marcel Reich-Ranicki mit einem literarischen Hinweis: »Böll hat das einmal ganz hübsch auf echt Böll’sche Weise in einem Artikel beschrieben. Da hat ein Mensch einen guten Roman gekauft und in den Bücherschrank gestellt und nicht gelesen.

Da liegt er ungelesen. Aber ein Jahr später wird die Reinemachefrau von ihrem fünfzehnjährigen Sohn abgeholt. Der Sohn holt sie ab, aber er ist etwas zu früh gekommen, und er muss nun warten und beginnt, ihn zu lesen. Also, mit anderen Worten wollte Böll sagen: Ein gutes Buch, auch wenn es nicht gelesen wird, wird eines Tages auf irgendeine Weise einen Leser finden.«

VERLEGER Diese Antwort gab der Literaturkritiker vor 34 Jahren seinem Interviewpartner Paul Assall, dem langjährigen Redakteur von SWF/SWR. Der war von dem Zürcher Verleger Egon Ammann mit diesem Interview beauftragt worden, dessen zweiter Teil, der literaturkritische, von Peter von Matt beigesteuert werden sollte. Nur dieser Teil ist seinerzeit veröffentlicht worden, das gute Interview zwischen Paul Assall und dem Kritiker blieb ungedruckt, blieb aber auf Tonband erhalten.

Jetzt findet dieses Interview nach 34 Jahren einen Verlag und erfüllt auf seine Weise das Böll’sche Gleichnis. Es ist frisch und auch aktuell geblieben. Auch wenn 15 Jahre danach die Autobiografie Reich-Ranickis Aus meinem Leben erschien, dokumentiert es auf kluge Fragen druckreife Gedanken und Erinnerungen des großen Kritikers, der am 2. Juni 100 Jahre alt geworden wäre.

WARSCHAU Das Interview dreht sich anfangs um die Kindheit in Polen, die Jugend und prägende Schulzeit in Berlin bis zum Abitur im Jahre 1938 auf dem Fichte-Gymnasium. Als jüdischer Schüler unter lauter Hitlerjungen wurde Reich-Ranicki seiner Erinnerung nach nicht ungerecht bewertet, vor allem nicht in Deutsch, Geschichte und Musik. Aber als er – blauäugig – studieren wollte, wurde er deportiert und nach Polen abgeschoben, wo er seine Eltern wiedertraf. Nach der deutschen Besetzung lebte seine Familie im 400.000 Juden zählenden Warschauer Ghetto.

Über die Bundesrepublik machte sich Marcel Reich-Ranicki keine Illusionen.

Reich-Ranicki beschreibt das Leben dort. Er selbst war Angestellter im dortigen Judenrat. Als die Nazis vom Obmann verlangten, täglich 7000 Juden zum Abtransport bereitzustellen, beendete dieser sein Leben. Reich-Ranicki floh aus dem Ghetto und musste sich bei Polen verstecken. Seine Eltern und sein Bruder wurden von den Nazis ermordet.

Nach dem Krieg arbeitete Reich-Ranicki im polnischen Außenministerium, zunächst in der Polnischen Militärmission in Berlin und dann als Konsul in London. Er war in die Kommunistische Partei eingetreten. In dem Interview gibt er seiner damaligen Überzeugung Ausdruck, dass dieser Schritt die einzig mögliche Antwort auf die Geschichte war.

Er wurde aber bald aus der Partei ausgeschlossen und erhielt eine Anstellung in einem polnischen Verlag, von wo aus ihm dann eine Reise in die Bundesrepublik möglich wurde, von der er nicht zurückkehrte. Seine Frau und sein Sohn waren zu der Zeit in London, sodass sich die Familie im Westen wiederfand. Heinrich Böll hatte ihm eine nützliche Bescheinigung ausgestellt. Seinen Einstieg als Literaturkritiker, zunächst bei der »Welt«, dann bei der »Zeit« und schließlich in der Redaktion der FAZ, bezeichnete er als leicht. Er konnte in uneingeschränkter Freiheit arbeiten.

FREIHEIT Diese Freiheit habe er genutzt, und er erläutert in diesem Interview eingehend die Aufgabe des Kritikers und die Funktion der Literaturkritik. Er weiß, dass es dafür keine Regeln gibt, und er hat doch mit seinem Lebensweg Maßstäbe gesetzt. Ihn hierüber nach 34 Jahren zu vernehmen, ist die große Chance dieser späten Veröffentlichung.

Auf die Frage, ob er keinen Hass auf die Deutschen empfinde, antwortet er typisch für ihn mit einem Zitat: »Nietzsche hat mal geschrieben: ›Man soll Völker weder hassen noch lieben.‹ Er hat wohl damit gemeint: Hassen oder lieben soll man vielleicht Individuen, aber nicht Völker. Er hat genau das ausgedrückt, was ich spüre: Es gibt kein Volk auf Erden, das ich hasse. Ich könnte auch nicht von einem Deutschenhass bei mir reden. Mir und meiner Familie und den Juden überhaupt ist das Schrecklichste von Deutschen angetan worden. Das zu vergessen, bin ich überhaupt nicht imstande. Andererseits bin ich ganz und gar im Geist der deutschen Literatur und der deutschen Musik erzogen.«

WÜRDENTRÄGER Über die Bundesrepublik vor 34 Jahren machte Reich-Ranicki sich keine Illusionen. Auf die Frage, wie er das bewertet, was man »Vergangenheitsbewältigung« nennt, kritisiert er die Politik der Adenauer­zeit und resümiert: »Sehen Sie, man hat manche Minister und hohen Würdenträger in diesem Land wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit entlassen. Halt, nicht wegen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern weil selbige von der DDR aufgedeckt und publiziert worden war.«

Ob solche Sätze die Antwort auf die Frage sind, warum das Interview damals nicht gedruckt wurde? Heute jedenfalls liest sich alles, auch die langen Passagen über den Sinn der Literaturkritik, ganz aktuell, wunderbar formuliert. Ein Glück, dass Paul Assall dieses Interview wieder hervorgeholt hat und dass der Verlag es veröffentlicht.

Paul Assall (Hrsg.): »›Ich schreibe unentwegt ein Leben lang‹. Marcel Reich-Ranicki im Gespräch«. Piper, München 2020, 176 S., 12 €

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