Interview

»Ich habe oft das Gefühl, weder tot noch lebendig zu sein«

Roberto Saviano über die autobiografische Graphic Novel »Iʼm Still Alive«, seinen Kampf gegen die Mafia, Schuldgefühle und ein Leben zwischen Angst und Hoffnung

von Knut Elstermann  17.10.2023 11:09 Uhr

Zusammen mit dem israelischen Comic-Künstler Asaf Hanuka schuf Roberto Saviano eine sehr persönliche Erzählung. Foto: Asaf Hanuka, Roberto Saviano

Roberto Saviano über die autobiografische Graphic Novel »Iʼm Still Alive«, seinen Kampf gegen die Mafia, Schuldgefühle und ein Leben zwischen Angst und Hoffnung

von Knut Elstermann  17.10.2023 11:09 Uhr

Der italienische Autor und Journalist Roberto Saviano, geboren 1979 in Neapel, veröffentlichte mit 26 Jahren seinen Weltbestseller »Gomorrha«, eine genau recherchierte Innenansicht der Camorra und ihres zerstörerischen Einflusses auf die Gesellschaft. Seit diesem Enthüllungsroman lebt der Anti-Mafia-Aufklärer unter ständigem Polizeischutz, versteckt und isoliert. Zusammen mit dem bekannten israelischen Comic-Künstler Asaf Hanuka, dessen Arbeiten wie »Der Realist« und »The Divine« auch in Deutschland viel gelesen wurden, schuf er eine sehr persönliche Graphic Novel. »Iʼm Still Alive – Im Fadenkreuz der Mafia« schildert seinen schweren, extrem eingeschränkten Alltag, in dem es weder Sicherheit noch Spontanität gibt. In Rückblenden schaltet das Werk in die Kindheit und Jugend Roberto Savianos und macht so prägende Einflüsse und Motive seines mutigen Handelns sichtbar.

Herr Saviano, es ist jetzt 15 Jahre her, seit Sie »Gomorrha« geschrieben haben, jenes Buch, das Ihr Leben vollkommen verändert hat. Sie haben sicher bei der Arbeit an dem Comic diesen tiefen Einschnitt noch einmal durchlebt und durchdacht.
Als ich mich entschieden habe, diesen Comic zu machen, musste ich wirklich bereit sein, noch einmal in diese Zeit zurückzugehen. Es sollte so etwas werden wie ein klaustrophobisches Abenteuer, weil ich in der Wirklichkeit, in der Welt da draußen, keine richtigen Abenteuer mehr erleben kann.

Streng genommen war es nicht der Roman selbst, der Sie in diese schwierige Lage gebracht hat. Sie sagen im Comic, die Mafiosi lesen nicht. Es war vielmehr ein denkwürdiger Auftritt vor Publikum nach dem Erscheinen des Buches.
Das stimmt. Für mich war entscheidend, dass ich in die Comorra-Hochburg Casal di Principe gegangen bin. Bei einer öffentlichen Veranstaltung trat ich in das Scheinwerferlicht, habe auf die Leute gezeigt und gefordert: Du musst verschwinden, und du auch. Ich habe ihre Namen genannt, denn sie waren dort. Nicht der ganz große Boss, aber sein Vater. Die Tatsache, dass ich sie öffentlich genannt und keine Angst dabei hatte, war für sie gefährlich. Dadurch verlieren sie an Glaubwürdigkeit.

Haben Sie den Roman manchmal bereut, weil er Ihr Leben so aus der Bahn gebracht hat?
Absolut, ich bedauere es sehr, dass ich das Buch geschrieben habe. Ich würde es nicht noch einmal tun, wenn ich in die Zeit zurückgehen könnte, denn es hat mein Leben zerstört. Das muss ich ganz klar sagen. Aber inzwischen habe ich meinen Frieden damit gemacht, und ich stehe dazu, auch zu meiner Verbissenheit, mit der ich den Dingen auf den Grund gehen will. Doch ich hoffe, irgendwann einmal aus dieser Lage herauszukommen. Auch dieser Comic ist ein Versuch, aus dieser isolierten Situation herauszutreten.

Sie sind von Haus aus Journalist, haben sich aber für die literarische Form entschieden. »Gomorrha. Reise in das Reich der Comorra« ist ein Roman, dem weitere folgten. Auch der autobiografische Comic ist eine literarische Form der Verarbeitung.
Ich gebe Ihnen recht, der Comic ist eine Literatur-Gattung. Für diese Form habe ich mich entschieden, weil ich spürte, dass das reine Wort nicht gereicht hätte, um auszudrücken, wie ich mich dabei fühle, wie ein Minotaurus im Labyrinth eingesperrt zu sein. Auch ein Dokumentarfilm hätte das nicht leisten können, dazu brauchte ich das künstlerische Bild.

Wie haben Sie mit Asaf Hanuka, dem großartigen Comic-Künstler, für dieses Werk zusammengearbeitet? Es erscheint mir übrigens wie ein erster Teil.
Es könnte schon sein, dass wir weiter zusammenarbeiten, in der Hoffnung, dass mein Leben noch weitergeht und es weitere Kapitel zu erzählen gibt. Ich wollte Asaf Hanuka unbedingt. Er ist ein kurdischer Jude, Sohn einer Irakerin aus Bagdad, der in Israel geboren wurde und in Tel Aviv lebt. Er kann wunderbar Geschichten in Bildern erzählen. Für unseren Comic kam er eigens hierher und lebte eine Zeit lang bei mir, um meine Situation zu verstehen.

Man kann diesen Comic wie Memoiren lesen, die Sie bisher nicht geschrieben haben. Diese Graphic Novel bietet etwas sehr Ähnliches. Sie sprechen darin von einem Schuldgefühl, weil Sie, anders als viele andere, überlebt haben. Woher kommt dieses Gefühl der Scham?
Das größte Schuldgefühl empfinde ich gegenüber meiner Familie, denn sie hatte keine Wahl, während ich mich selbst für diesen Weg des Kampfes entschieden habe. Dennoch müssen auch sie sich heute verstecken. Ich habe oft das Gefühl, weder tot noch lebendig zu sein. Manchmal denke ich, es wäre besser, sie hätten mich getötet. Ich spüre dieses Schuldgefühl auch denen gegenüber, die ermordet wurden. So komplex sieht meine Gefühlswelt aus.

Ihrer jüdischen Mutter setzen Sie im Comic ein sehr liebevolles Denkmal. Ihr Vater war Katholik. Was bedeutet Ihnen die Vergangenheit dieses jüdischen Zweigs Ihrer Familie?
Ich fühle mich der jüdischen Kultur sehr verbunden, sie hat mir in meinem Leben sehr geholfen. Ich habe viele jüdische Autoren studiert. Wir kommen aus der sefardischen Tradition, der ich mich als Konfessionsloser sehr angenähert habe. Dort habe ich gelernt, dass die Wahrheit immer eine Wahl ist, die du triffst. Es ist deine Entscheidung, wie du zur Wahrheit stehst und wie du dein Leben führst. Dieses Credo bedeutet für mich auch, dass ich bereit sein muss, für meine Wahrheit zu kämpfen.

Geradezu erschütternd ist im Comic, der auch gezeichnete Interviews enthält, die Schonungslosigkeit Ihrer Selbstauskünfte. Etwa wenn Sie sagen, dass Sie der Mafia ähnlich geworden seien, mit diesem Misstrauen gegen jeden.
Genau wegen dieses Vertrauensverlustes kann ich nicht aus der Einsamkeit ausbrechen. Ich teile Menschen, die ich kennenlerne, sofort prozentual danach ein, ob ich ihnen vertrauen kann, 90 Prozent, 40 Prozent, zehn Prozent. Das ist natürlich absurd, aber es geschieht ganz automatisch. Ich bin auf jeden Fall ein schlechterer Mensch geworden. Wenn man ständigen öffentlichen Angriffen ausgesetzt ist, dann wird man kein besserer Mensch. Die einzige Möglichkeit, dem zu entfliehen, ist, mich noch mehr zu isolieren, zum Beispiel nicht online zu gehen, den allgemeinen Abstand zu suchen.

Sie beschreiben im Comic diesen unbedingten Willen zur Wahrheit sehr genau. Was ist das Motiv, warum können Sie nicht schweigen?
Ich würde das gar nicht nur als eine moralische Entscheidung beschreiben oder als etwas sehr Nobles. Es war wirklich eine Art der Besessenheit von all diesen kriminellen Fällen, ich konnte mich dem nicht entziehen und musste mich engagieren. Aber ich war auch sehr ehrgeizig und dachte, mit einem Roman, mit Worten also, die Welt verändern zu können. Das glaube ich nicht mehr. Verändert hat sich, dass mir ein unglaublicher Hass entgegengeschlagen ist, dass ich aus meiner Heimatstadt vertrieben wurde.

Aber im Comic heißt es auch, dass die Mafia das Wort fürchtet. Also hat es doch eine Macht?
Das stimmt natürlich, aber ich glaube nicht mehr, dass ich es kann. Ich habe einen zu hohen Preis dafür bezahlt. Aber nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass die Mafia das Wort am allermeisten fürchtet, weil es offenlegt, wie sie agiert und welche Machenschaften sie betreibt. Alle Mafia-Bosse wissen selbstverständlich, dass ihre Macht begrenzt ist, dass sie früher oder später eingesperrt oder umgebracht werden. Aber sie haben immer Angst davor, dass die Menschen ihre Methoden durchschauen, dass die Mechanismen ihrer Macht freigelegt werden. Ich kann das aber nicht mehr tun.

Können Sie diese für Sie so schwierige Heimat Italien noch lieben?
Ich liebe Italien, von genau dieser Liebe lebt meine Arbeit. Wie können Leute nur behaupten, dass jemand wie ich, der die kriminellen Strukturen aufdecken will, ein Landesverräter sei? Echter Wandel kann doch nur einsetzen, wenn offen ausgesprochen wird, was nicht funktioniert, wenn die kriminellen Dynamiken angeklagt werden. Dieser Wandel kommt nicht von allein, er braucht die Mitarbeit aller.

Mit dem Autor und Journalisten sprach Knut Elstermann.
Roberto Saviano und Asaf Hanuka: »Iʼm Still Alive – Im Fadenkreuz der Mafia«. Aus dem Italienischen von Jörg Faßbender. Cross Cult, Ludwigsburg 2023, 144 S., 30 €

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