Musik lässt sich auch in Minuten messen und ein Film auch in Metern. Der Dirigent schaut auf seine Partitur, und er schaut auf seinen Laptop. Auf dem Laptop läuft ein Film. Die Orchestermusiker sehen den Film nicht. Sie sehen ihre Noten und den Dirigenten.
Der Film auf dem Laptop hat einen eingeblendeten Timecode, sodass der Dirigent genau weiß, wo im Film er sich gerade befindet, welchen musikalischen Akzent, welchen Einsatz er erwischen muss, damit es mit dem Bild auf der Kinoleinwand übereinstimmt. Der Timecode ist ebenfalls im Notenmaterial notiert.
»Im Schlaf kommen mir manchmal Ideen oder einfach unterwegs, wenn ich durch die Stadt gehe.«
Die Herausforderung des Komponisten besteht darin, einen alten Stummfilm von mehr als zwei Stunden zu vertonen, was offensichtlich neben dem musikalischen Talent in all seinen Facetten zusätzlich nach der Fähigkeit verlangt, mathematisch exakt arbeiten zu können. Und dann gibt es da noch das Publikum.
Das folgt gebannt dem Film auf der großen Leinwand und verschwendet keinen Gedanken an die Komplexität, die hinter der Vertonung eines Stummfilms steckt. »Man schaut einen Film, und die Musik begleitet die Menschen unbewusst, dennoch ist sie ein wichtiger Faktor – Teil eines Gesamtkunstwerks«, sagt Richard Ruzicka.
GENAUIGKEIT Der junge Komponist ist 24 Jahre alt. Es geht viel Ernsthaftigkeit von ihm aus. Und viel zuvorkommende Freundlichkeit. Auch Genauigkeit, was sich in seiner Sprache widerspiegelt und in der Zeit, die er sich nimmt, um klare, eindeutige, sehr korrekte Antworten zu geben.
Er sagt: »Es ist in der Tat ein ganz anderes Arbeiten, wenn man entlang von einem Objekt – dem Film – Musik schreibt, was mich schon immer extrem gereizt hat.«
Richard Ruzicka wurde in Düsseldorf geboren. Mit zehn Jahren zieht er zusammen mit seiner Familie nach München. Noch während der Schulzeit nimmt er an der Musikhochschule Klavierunterricht, bewirbt sich für ein Jungstudium in Komposition und bekommt den Platz.
Nach dem Abitur studiert er dann vier Jahre lang »Filmmusik« – »weil ich Bilder so inspirierend fand«. Hier macht Richard Ruzicka eine kurze Pause, denkt nach und stellt fest: »Das war vielleicht das Wichtigste, was ich in meinem Leben getan habe.« Er habe in dieser Zeit endgültig erfahren, dass das »total meins ist, zu 100 Prozent«. Dabei ist es geblieben. »Es ergibt Sinn, was ich tue, ich bin damit sehr glücklich.«
Er schrieb schon Filmmusiken für »Tatort« und »Polizeiruf«.
Bereits während des Studiums schreibt Ruzicka Filmmusiken – »ich wollte schon einen Fuß drinnen haben, wollte schon wissen, wie das Ganze funktioniert« –, beliefert den Tatort und den Polizeiruf 110 sowie weitere Fernsehfilme, vertont den Kinofilm Lenalove, macht auf sich aufmerksam. Er pausiert ein Jahr, »weil eben viele Aufträge reingekommen sind«. Offiziell abgeschlossen hat Ruzicka sein Studium im vergangenen Sommer.
In der Familie »gab es eigentlich sehr wenige Musiker«, sagt Richard Ruzicka, auch die Eltern waren keine, dafür aber »wahnsinnige Musikfanatiker«. »Vor allem mein Vater geht unfassbar oft in die Oper, kennt sich unglaublich gut aus mit klassischer Musik, hat uns, mich und meine Brüder, einfach von Anfang an begeistert.«
Die Kinder bekommen eine »klassische Ausbildung«, fangen mit fünf Jahren an, ein Musikinstrument zu spielen, beteiligen sich am musikalischen Kinderangebot der Münchner Israelitischen Kultusgemeinde, bringen die Schülerinnen und Schüler des »Musikstudios Zlilim« beim Sommerkonzert zum Staunen, woran sich die Leiterinnen dort bis heute gerne erinnern.
»Mein Vater ist stark in der jüdischen Gemeinde involviert«, sagt Richard Ruzicka. Auch in seinem Leben besitze Judentum große Bedeutung. »Der Glaube an sich« spiele da zwar nicht wirklich eine Rolle, »aber das Judentum bedeutet mir etwas, wie sollte es anders sein? Wenn das die Wurzeln meines Vaters sind, dann sind das auch meine Wurzeln.«
stummfilm Richards Vater, Thomas Ruzicka, Professor für Dermatologie, war es, der ihm erzählte, dass das Jewish Chamber Orchestra Munich jemanden suchte, der den Stummfilm Nerven von Robert Reinert vertonen könne.
»Über die jüdische Gemeinde kennen meine Eltern die Eltern von Daniel Grossmann, der das Orchester leitet.« Ruzicka hat sich den Film angesehen und war sofort dabei: »Und ob ich Lust habe! Das sind ein tolles Orchester, ein toller Dirigent und ein aufregender Film!«
Nerven ist ein Film aus dem Jahr 1919. Der Österreicher Robert Reinert (1872–1928) hat sowohl das Drehbuch geschrieben als auch Regie geführt. Gefilmt wurde vor allem in München. Die Handlung von Nerven geriet zur puren Demonstration dessen, was der Krieg mit den Menschen macht, gemacht hat. Frauen und Männer, irgendwie miteinander verbunden, werden von einer »nervösen Epidemie« befallen und reißen sich gegenseitig immer weiter ins Unglück.
Nerven gilt als einer der ersten expressionistischen Stummfilme, nimmt Sergej M. Eisenstein vorweg. Er läuft über vor Dramatik und sucht nach dem einfachen, erdverbundenen Leben, gar nach »Stammeltern eines neuen, glücklichen Geschlechts«, fern jedes Intellekts. Das lässt sich, auch wenn vieles heute einfach nur komisch wirkt, nicht ohne Schaudern sehen.
»Es ergibt Sinn, was ich tue, ich bin damit sehr glücklich.«
Bei der Uraufführung von Nerven war der Erste Weltkrieg, der überall deutliche Spuren hinterlassen hatte, gerade einmal ein Jahr zuvor zu Ende gegangen. Stattgefunden hatte sie in den Münchner Kammerlichtspielen.
Der Film soll »Menschen in den Wahnsinn getrieben« haben; während der Vorführung sollen Männer und Frauen zusammengebrochen sein. Die Berliner Zensur kürzte ihn daraufhin von rund 2500 Metern auf rund 2000 Meter herunter. Auch Victor Klemperer hat sich dem Spektakel ausgesetzt, wie sich in seinem Tagebuch nachlesen lässt.
NOTIZEN Richard Ruzicka arbeitete drei Monate an der Musik. Er tat das in seinem Studio, ausgestattet mit dem typischen Equipment, vielen Instrumenten und der nötigen Elektronik. »Aber eigentlich ist es so, dass ich den Tag über Ideen sammle. Auch im Schlaf kommen mir manchmal Ideen oder einfach unterwegs, wenn ich durch die Stadt gehe. Dann mache ich mir meistens gleich Notizen, die nur ich verstehe. Vielleicht singe ich aufs Handy oder schreibe etwas auf einen kleinen Zettel. Und diese fragmentarischen Ideen baue ich dann aus.«
Und ja, am Anfang hatte er schon ziemlichen Respekt vor dieser neuen Aufgabe. »Denn für einen Stummfilm von über zwei Stunden zu schreiben, das ist nicht ohne.« Natürlich ist es moderne Musik, die da entstanden ist, umso erstaunlicher, dass ihre Wirkung, ihr bedrohlicher Farbton, ihre Expression mit der Stummfilmzeit in Einklang gebracht werden kann.
Aufregende Geräusche tauchen aus dem Orchesterklangteppich auf, auch unvermittelt, Geklopfe, Gezimpel, das Hecheln des Akkordeons. An einigen Stellen wird vorproduziertes, elektronisches Playback eingespielt, bis sich dann irgendwann ein Swing – »den es zu der Zeit überhaupt noch nicht gab«, wirft Ruzicka ein – mit spannungsgeladenem Rhythmus breit machen darf. »Der Film ist ja in gewisser Weise überfordernd, weil wirklich viele Schicksale zugrundegehen, und deshalb war es mir auch wichtig, in der Musik eine gewisse Überforderung festzuhalten.«
VERTRAUEN Richard Ruzicka war bei allen vier Proben à vier Stunden des Jewish Chamber Orchestra, das sich als »vielfältige, zeitgenössische jüdische Stimme« versteht, anwesend. Sie waren für ihn »superspannend und sehr aufregend«.
»Wenn man so lange an etwas schreibt und das dann hören kann, dann ist das schon ein Wahnsinnsgefühl.« Zu dem Dirigenten Daniel Grossmann, mit dem er bereits vor den Proben intensiv über die Partitur gesprochen hat – »eine Partitur ist so etwas wie eine leere Schrift, in die man Leben hineinbringen muss« – hat er »größtes Vertrauen«.
Im April präsentierte das Jewish Chamber Orchestra Munich im Rahmen der Stummfilmkonzertreihe »Flimmerkammer« in den Münchner Kammerspielen die Uraufführung von Richard Ruzickas Filmkomposition Nerven. Es wird nicht die letzte Aufführung gewesen sein – und auch nicht die letzte Komposition des jungen jüdischen Komponisten.