Interview

»Ich habe eine ewige To-do-Liste«

Nele Pollatschek über ihren neuen Roman und die Auszeichnung als Kulturjournalistin des Jahres 2023

von Nils Kottmann  04.01.2024 09:10 Uhr

Nele Pollatschek (35) wurde in Ost-Berlin geboren und 2018 in Oxford promoviert. Foto: Urban Zintel

Nele Pollatschek über ihren neuen Roman und die Auszeichnung als Kulturjournalistin des Jahres 2023

von Nils Kottmann  04.01.2024 09:10 Uhr

Frau Pollatschek, in Ihrem Roman »Kleine Probleme« geht es um den Prokrastinierer Lars, der am 31. Dezember noch eine unmögliche To-do-Liste abarbeiten will: von Wohnung putzen bis endlich sein Lebenswerk schreiben. Was stand eigentlich auf Ihrer To-do-Liste für die letzten Tage im Jahr 2023?
Dieses Jahr zum ersten Mal praktisch nichts. In den letzten Jahren habe ich mir immer sehr viel vorgenommen. Dieses Mal nehme ich mir ausnahmsweise nicht vor, die Welt zu retten, und hoffe darauf, dass sie das 2024 einfach selbst macht.

Ist das vielleicht das Geheimnis? Nicht die Welt retten zu wollen und es dann trotzdem zu tun, weil man sich nicht übernimmt?
Nee, so fangen wir gar nicht erst an! Es ist zwar mittlerweile verpönt, sich Neujahrsvorsätze zu machen, ich glaube aber, dass das Quatsch ist. Sich Sachen vorzunehmen, das ist wichtig und zutiefst menschlich. Es ist heroisch, am 1. Januar mit dem Rauchen aufzuhören, obwohl man schon 20-mal wieder angefangen hat. In Anbetracht der Tatsache, dass Menschen meistens scheitern, ist es kein gangbarer Weg, gar nichts zu versuchen. Der Versuch an sich ist nobel.

Ihr Protagonist Lars bekommt von seiner Frau gesagt, er müsse pragmatisch sein. Aber Lars muss sich neue Wörter für Ikea-Bauteile ausdenken, damit er überhaupt erst anfängt, ein Bett aufzubauen. Warum fällt ihm Pragmatismus so schwer?
Oscar Wilde hat einmal gesagt, dass wir alle in der Gosse sitzen, aber manche von uns in die Sterne schauen. Lars ist einer, der viel in die Sterne schaut, und das Problem dabei ist, dass man darüber die Gosse vernachlässigt. Das heißt, der Mensch ist zu Großem geboren und scheitert überall an kleinen Problemen. Ich habe eine ewige To-do-Liste, und es gibt keinen Grund zu denken, dass ich sie abarbeiten kann. Ich kann zwar pragmatisch die Steuererklärung machen oder die Küche putzen, dann bin ich aber den ganzen Tag mit kleinen Problemen beschäftigt. Wenn ich aber sage, dass ich zu Großem geboren bin, muss ich das abwägen. Ich kann pragmatisch sein, muss dann aber den großen romantischen Traum aufgeben. Wer aber für das Große lebt, wird sich nicht um die Spülmaschine kümmern. Lars ist deswegen ein Romantiker, wie Don Quijote.

Don Quijote will aber auch in eine Welt zurück, die unerreichbar ist. Prokrastinieren wir nicht unter anderem, weil dann immer noch die Möglichkeit besteht, dass unser Traum noch nicht geplatzt ist?
Ja, klar. Ich glaube, der Prokrastinierer ist ein Romantiker und ein Perfektionist. Und solange ich das Buch nicht geschrieben habe, kann es immer noch das beste Buch der Welt werden. Dinge verlieren ihre Perfektion, wenn sie real werden. Deswegen halten wir an der Perfektion fest, aber es ist eigentlich besser, wenn sie existieren. Wenn mir Freunde tolle Nachrichten schreiben, freue ich mich darüber so sehr, dass ich ihnen ebenso schön antworten möchte, und dann gibt es gar keine Antwort.

Nudelsalat machen oder ein Ikea-Bett aufbauen sind eigentlich keine Themen für große Literatur. Warum hat es Sie trotzdem gereizt, darüber zu schreiben?
Ich glaube, dass die Literatur, zumal die realistische, eine Lüge erzählt, dass Menschen an außergewöhnlichen Dingen scheitern. Bei Romeo und Julia stehen die Häuser Montague und Capulet der großen Liebe im Weg. Aber die meisten von uns stellen fest, dass sie nicht an mächtigen Widersachern scheitert, sondern dass wir aneinander und an uns selbst scheitern. Vielleicht, weil der Partner nicht oft genug die Spülmaschine ausgeräumt oder eine falsche Geste gemacht hat. Und das Jahresende ist die Zeit, wo uns unser persönliches Scheitern auffällt. Ich glaube auch, dass wir über das Jahr vor allem an den kleinen Dingen verzweifeln.

Zum Beispiel?
Mein Computer hat vor Weihnachten einen Text gefressen, an dem ich 20 Stunden geschrieben habe, und ich habe deshalb geheult wie ein Schlosshund. Das sind Dinge, bei denen wir so tun müssen, als wären sie Lappalien, aber die Verzweiflung, wenn ein Text verloren geht oder ein Drucker einfach partout nicht funktioniert, ist echt, und ich glaube, sie ist universell. Wir tun in der Literatur so, als seien Identitätsmarker einer Person Anzeichen für völlig unterschiedliche Erfahrungen. Aber nach meinem Gefühl sind die meisten unserer Erfahrungen identisch.

Lars macht über seine Verzweiflung vor allem Witze. Hilft Humor, diese Verzweiflung zu verarbeiten?
Humor brauchst du, wenn du denkst, dass die meisten Probleme eigentlich unlösbar sind. Wenn du merkst, dass du trotzdem sterben musst, obwohl du deine Wohnung aufgeräumt hast. Ich werde manchmal als komischer Autor bezeichnet, aber Humor ist mir gar nicht wichtig. Ich wüsste nur nicht, wie es ohne geht. Humor ist die Schwester der Verzweiflung, und da ein realistischer Mensch immer auch verzweifelt ist, muss er humorvoll sein.

Gehen wir mit Humor aber nicht auch der Verzweiflung aus dem Weg?
Ja doch, natürlich. Aber was sollen wir denn machen? Zwei Dinge: Als Leser glaube ich Verzweiflung nicht, wenn sie nicht in Humor verpackt ist. Wenn es noch ohne Lachen geht, kann es so schlimm nicht sein. Ich habe auf Beerdigungen noch nie nicht gelacht - und zwar meistens über völlig banale Dinge. Nicht weil die so lustig waren, sondern weil man sich an jeden Witz wie an einen Strohhalm klammert. Mein Traumberuf wäre eigentlich Beerdigungs-Comedian, weil die Leute dort wirklich über alles lachen.

Sie wurden als Kulturjournalistin des Jahres ausgezeichnet. Was zeichnet eine gute Feuilletonistin Ihrer Meinung nach aus?
Einen guten Kulturjournalisten machen ziemlich unsympathische Charaktereigenschaften aus. Ich bin obsessiv, und ich kann es nicht ertragen, wenn ein Argument nicht ganz stimmt. Das heißt auch, Freunden dann die Wahrheit zu sagen, wenn die vielleicht unangenehm ist. Mir geht es aber nicht ums Provozieren, sondern mir fehlt die Fähigkeit, intuitiv das sozial Gewünschte zu sagen. Ich glaube, es ist dem Zufall und der Brillanz meiner Chefin zu verdanken, dass meine Charakterdeformationen an den einen Ort gekommen sind, wo man dafür Preise bekommt und nicht Ärger.

Mit der Schriftstellerin sprach Nils Kottmann.

Nele Pollatschek: »Kleine Probleme«. Galiani Berlin, Berlin 2023, 208 S., 23 €

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