Film

»Ich erreiche Frauen überall«

Die schweizerisch-israelische Schauspielerin Naomi Krauss verkörpert die Hauptrolle in »Faraway« – die Netflix-Komödie landete weltweit auf Platz zwei

von Ayala Goldmann  19.03.2023 07:56 Uhr

»Als Kind war ich eher ein Clown«: Naomi Krauss wurde 1967 in Basel geboren und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Foto: Stephan Pramme

Die schweizerisch-israelische Schauspielerin Naomi Krauss verkörpert die Hauptrolle in »Faraway« – die Netflix-Komödie landete weltweit auf Platz zwei

von Ayala Goldmann  19.03.2023 07:56 Uhr

Naomi Krauss ist ein bescheidener Mensch. Sie strahlt innere Ruhe und Kraft aus – eine Schauspielerin, die gleichzeitig introvertiert und extrovertiert wirkt. Die Tochter eines Schweizers und einer Israelin mit jemenitischen Wurzeln lebt in Berlin. Sie hat mit Michael Verhoeven gedreht, war in Die Unsichtbaren – wir wollen leben und Nacht über Berlin zu sehen. Im Theaterstück Die Vögel von Wajdi Mouawad am Berliner Ensemble spielt sie eine Großmutter. Aber ihre Hauptrolle als Zeynep in der Netflix-Komödie Faraway übertrifft alle Erwartungen.

»Faraway ist weltweit auf Platz zwei der Netflix-Filme!«, begeistert sich Naomi Krauss. »Für eine Schauspielerin ist Net­flix die Chance, mehr Herzen zu erreichen. Wenn ein Film im Kino läuft, sind das drei Wochen, und dann ist er weg. Auf Net­flix sieht mich die Welt«, sagt sie. Krauss spricht mit einem melodischen Akzent, den man nicht sofort als schweizerisch identifizieren würde, sitzt beim Gespräch auf einem Sofa und trinkt Tee.

HELDIN Die Welt sieht sie jetzt als Zeynep, eine kroatisch-türkische Frau, die in München mit ihrer Familie ein Restaurant betreibt. Zeynep ist 49 – sechs Jahre jünger als Naomi Krauss. Und im Leben der Filmheldin läuft es wie bei vielen Frauen in ihrem Alter: Der Mann macht einer Jüngeren Augen, die 18-jährige Tochter ist auf strikte Abgrenzung bedacht.

Als Zeyneps Mutter stirbt, merkt sie, wie allein sie ist – ihr Mann verpasst sogar die Beerdigung, weil er angeblich dringend die junge Köchin im Restaurant anlernen muss. Kurz entschlossen setzt sich Zeynep in den Lieferwagen des Restaurants und fährt allein nach Kroatien; ihre Mutter hat ihr dort ein Haus auf einer Insel vererbt. Damit nimmt die Geschichte ihren Lauf. »Die Befreiung von Zeynep passiert nicht durch einen Mann. Sie befreit sich, indem sie unter anderem ein Loch in die Wand des Hauses in Kroatien schlägt und ein neues Fenster bestellt. Und erst dann küsst sie ihn«, sagt Naomi Krauss.

»Viele melden mir zurück: ›Endlich mal eine normal aussehende Frau, mit Röllchen!‹«

Wichtig war ihr beim Dreh: Als die Tochter sich mit einer Liebe zu einer Frau outet, sollte die Mutter laut Drehbuch lachen. »Ich wollte die Tochter im Film bei ihrem Outing nicht auslachen. Aber dass die Mutter hilflos ist und über sich selbst lacht, als sie auf die Frage: ›Wie heißt er?‹ die Antwort ›Luisa‹ bekommt, dass sie also nur an einen Jungen als Partner für ihre Tochter gedacht hat, dass es also ein befreiendes Lachen ist – darum geht es.«

Es ist gute Unterhaltung, Naomi Krauss als Heldin zuzusehen, die sich von Zwängen befreit und von Erwartungen, wie ihr Körper auszusehen habe – angefangen von der furchtbaren, Figur formenden Unterwäsche, die Zeynep in München trägt. In Kroatien läuft sie im roten Kleid zu großer Form auf. »Am Theater habe ich oft Komödien gespielt, aber im Film haben sie mich immer für dramatische, tiefe Rollen geholt – was ja eigentlich ein Kompliment ist. Aber Komödie ist die Königsdisziplin«, stellt Krauss zufrieden fest.

Sie weiß nur zu gut: »Es gibt viel weniger Rollen für ältere Frauen als für jüngere. Ich habe Glück, ich spiele jetzt in Faraway. Aber ich habe schon als junge Schauspielerin nicht so viele Rollen bekommen. Ich musste immer kämpfen, ich hatte nie genug zu tun – obwohl ich mit guten Leuten zusammengearbeitet habe. Und ich fragte mich immer: Warum läuft das nicht? Und jetzt hat man mir diese Chance gegeben, und ich zeige in Faraway, dass ich einen Film tragen kann und etwas machen kann, das die Herzen berührt.«

FRAUENTAG Dabei ist Faraway, der am 8. März (dem Internationalen Frauentag) Netflix-Premiere hatte, kein perfekter Film. Es ist eine Komödie mit Agenda, die Musik reichlich kitschig. Man muss auch Nenas Song »99 Luftballons« nicht mögen, um sich für die vielen Gesichter der Hauptdarstellerin von Faraway zu begeistern.

»Ich erreiche Frauen überall. Eine Frau schrieb mir aus Brasilien, aus den Favelas, sie hätte auch gern den Mut, sich zu befreien. Und viele melden mir zurück: ›Endlich mal eine normal aussehende Frau, mit Röllchen!‹« Faraway habe auch sie selbst befreit und die Beziehung zu ihrem Körper, gesteht sie: »Ich mag jetzt meinen Körper – ich liebe ihn noch nicht.« Auch damit spricht sie vielen Frauen aus der Seele. Und nicht nur denen über 50.

Naomi Krauss gehört nicht zu den Menschen, deren Leben scheinbar immer glatt über die Bühne ging. »Wie viele Leute haben mir schon gesagt: ›Du, Naomi, es läuft so schlecht bei dir, jetzt mach mal ’ne Umschulung. Ja, klar, weil ich jahrelang nichts zu tun hatte oder einmal drei Drehtage im Jahr, dann zum Arbeitsamt rennen, dann Geld ausleihen. Aber ich habe keine Umschulung gemacht. Und das war gut so.«

Ihre Tochter Lina Krauss ist mit 16 Jahren ausgezogen und jetzt als Fußballerin unter Vertrag bei FC Union Frauen. Die Mutter resümiert: »Wenn man in einer Familie ist, weiß eine Frau oft gar nicht, wer sie ist – sondern sie ist es gewohnt zu geben und hat es schwer, Grenzen zu setzen. Ich finde Geben auch schön, und ich habe auch sehr spät gelernt, Grenzen zu setzen. Als meine Tochter ausgezogen ist, dachte ich: ›Lina weiß jetzt, wer sie ist. Aber ich weiß nicht, wer ich ohne Lina bin.‹ Das kommt erst jetzt.«

Als Kind, erinnert sie sich, »war ich eher ein Clown«. Als Schauspielerin habe sie viele Rollen nicht bekommen, »mein Showreel bestand aus der Mutter, die ein Kind verliert, oder der Frau, die den Mann verliert, oder aus Jüdinnen, die leiden. Aber das Judentum hat doch ganz viel Komik!« Für sie ist es »nicht nur eine Religion, sondern auch eine Kultur mit Essen und Musik, Philosophie und Spiritualität. Ich sehe das Judentum als Volk«.

AUGEN Die Eltern ihrer Mutter wanderten vor der Staatsgründung Israels aus dem Jemen nach Palästina ein. »Meine Tante Judith ist noch in Sanaa geboren, und die Familie kam mit dem Esel durch die Wüste zum Schiff. Judith war blond und hatte grüne Augen«, erzählt Krauss: »Alle Frauen in unserer Familie haben grüne Augen, das gibt es im Jemen fast gar nicht. Man vermutet, dass da mal Holländer im Spiel waren. Das ist nur ein Gerücht, das meine Oma einmal geäußert hat. Aber es gibt Jemeniten, die dunkel sind und trotzdem grüne Augen haben – auch in Afghanistan gibt es das.« Wie auf berühmten Fotos der geflüchteten Sharbat Gula von Steve McCurry aus den 80er-Jahren.

Naomis Vater, ein Schweizer, fühlte sich als Jugendlicher zum Judentum hingezogen. »Dann hat er Ahnenforschung gemacht und gesehen, dass die konvertiert sind – ursprünglich stammten sie aus Osteuropa und sind über den Balkan in die Schweiz geflohen. Mein Vater hat dann Hebräisch gelernt, hat meine Mutter im Kibbuz kennengelernt und ist Israeli geworden.«

Sie selbst kam in Basel zur Welt. Die Familie zog für einige Jahre zurück nach Israel und kehrte dann in die Schweiz zurück. Auf der Schauspielschule lernte Naomi Krauss Bühnenhochdeutsch. »1989 kam ich nach Berlin, da war ich 22. Mehr als die Hälfte meines Lebens bin ich schon hier. Ich weiß nicht, ob ich schon auf Hochdeutsch träume, aber auf jeden Fall denke ich auf Hochdeutsch.«

Sie tritt in »Die Vögel« im Berliner Ensemble auf: »Für mich ist das kein antisemitisches Stück.«

In Berlin ist Naomi Krauss in Die Vögel am Berliner Ensemble zu sehen. Über die Diskussion sagt sie: »Es gab ein bis zwei Stellen in dem Stück, mit denen ich Probleme hatte. Aber die Balance stimmte, weil es in Berlin sehr schön inszeniert wurde. Das Stück in München habe ich nicht gesehen. Wenn man es einsprachig inszeniert, funktioniert es nicht. Mit vier Sprachen – Hebräisch, Arabisch, Englisch, Deutsch – öffnen sich ganz andere Türen in deiner Seele. Das ist ja wie Musik. Für mich ist das kein antisemitisches Stück.«

In diesem Zusammenhang unterstreicht sie aber: »Man erwartet immer von Juden, dass sie besser sind als andere. Doch Auschwitz ist ja keine Besserungsanstalt für gutes Benehmen. In Let’s go! von Michael Verhoeven spiele ich eine Frau, die ihre Kinder nicht umarmen kann, und der Vater schlägt seine Kinder. (…) Die Menschen, die überlebt haben, wurden zerstört. Einige schaffen es, trotz ihrer Zerstörung wieder ins Glück zu finden und in die Heilung, aber einige schaffen es eben nicht.«

GLÜCK Und Krauss sagt: »Ich bin einfach glücklich, dass ich mal in Deutschland auf einer Bühne stehen und Hebräisch sprechen darf – nach der Geschichte, die sich in diesem Land hier abgespielt hat.« Und sie genießt es, »zusammen mit einem Syrer auf der Bühne zu stehen und sein Arabisch zu hören. Hebräisch und Arabisch zusammen im Theater – da kommt eine Sehnsucht nach Frieden zum Ausdruck. Der syrische Schauspieler sagte mir, ich sähe aus wie seine Schwester. Er könnte also mein Bruder sein«.

Zu Beginn von Faraway schaut Zeynep aufs Meer. »Die Sache mit dem Glück ist die …«, sagt sie und unterbricht sich selbst: »Nein. Warte. Ich fange von vorne an.« Was bedeutet Glück für Naomi Krauss? »Wenn ich in meinem Inneren Frieden habe. Wenn ich leicht bin und viel lachen kann. Und wenn ich das Gefühl habe, dass ich eine gute Mutter für meine Tochter bin. Für mich ist Glück zu sehen, wie sie sich entwickelt hat, weil sie einfach ein großartiger Mensch ist. Glück ist auch, wenn ich geliebt werde, und auch, gesund zu sein. Und wenn dann noch beruflich etwas klappt, das ist dann das i-Tüpfelchen. Aber ich möchte einfach in erster Linie ein guter Mensch sein.«

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