Er ist einer der bekanntesten Franzosen, einer der größten Chansonniers und auch mit 93 ein Weltstar, der täglich schreibt und komponiert und sogar noch auf Tour geht. Doch Charles Aznavour kam vergangene Woche nicht nur nach Israel, um am Samstag in Tel Aviv vor Tausenden Fans aufzutreten. Er kam vielmehr auch, um Ehrungen für seine verstorbenen Eltern, Misha und Knar Aznavourian, entgegenzunehmen. Diese hatten während der Schoa in ihrer Pariser Wohnung Juden vor der Gestapo versteckt.
Dafür verlieh ihm Israels Staatspräsident Reuven Rivlin nun die Raoul-Wallenberg-Medaille. Gerade als Überlebende des Genozids an den Armeniern solidarisierten sich die Aznavourians mit verfolgten Juden, Widerstandskämpfern und Deserteuren der Wehrmacht. Die Jüdische Allgemeine traf Aznavour einige Tage vor der Ehrung in Paris, wo der Sänger zur Begrüßung auf Hebräisch sagte: »Bruchim Habaim«. Dann sprach Aznavour den Anfang des Gebets Schma Israel.
Aznavour: Ich habe das meiste vergessen, nur die erste Strophe kenne ich noch: »Schma Israel, Adonai«. Ich begleitete oft meinen guten Freund, den bekannten Modeschöpfer Ted Lapidus, in die Synagoge; Sonst würde er nicht hingehen. Daher dachten alle Juden in Frankreich, dass ich jüdisch bin. Nur zweimal spielte ich in einem Film einen Armenier, aber siebenmal einen Juden. Meine Lieblingsrolle war die des jüdischen Spielwarenverkäufers Sigismund Markus in der Verfilmung der Blechtrommel. Dort musste ich das Totengebet Kaddisch sprechen, was schwer war.
Und wieso können Sie Jiddisch?
Ich lernte ein bisschen Jiddisch von meinem jüdischen Freund, der mit meinem Vater Jiddisch sprach. Als mein Vater jung war, mischten die Kinder in Georgien alle Sprachen der Nachbarschaft zusammen: Russisch, Armenisch, Georgisch und eben auch Jiddisch. Ich bezeichne mich als den einzigen aschkenasischen Goi; in meiner Kindheit und auch später waren alle meine Freunde Juden. Denn ihre Eltern waren Migranten, wie die Armenier, wohnten im gleichen Gebiet und nahmen die gleiche Fluchtroute nach Frankreich, die über Thessaloniki führte. In Paris arbeiteten sie gemeinsam auf dem Flohmarkt Marché aux Puces de Saint-Ouen am nördlichen Rand von Paris. Als die Juden kurz vor dem deutschen Einmarsch aus Frankreich flüchteten, überließen sie ihre Marktstände den einheimischen Armeniern. Sie vertrauten ihnen, dass sie nach dem Krieg ihre Läden problemlos an sie zurückgeben würden. Sie hatten doch eng zusammengearbeitet und kannten sich gut.
Können Sie sich noch an jene mutigen Aktionen erinnern?
Ein Jude hieß Simon und kam zu uns über seine armenische Frau Carmen. Ein anderer kam aus Aserbaidschan. (Aznavours Schwester Aida schrieb in ihrem Buch von einem rumänischen Juden, der aus Nazi-Deutschland flüchtete, Anm. d. Red.). In meinem Elternhaus schliefen meine Schwester und ich auf dem Boden, weil sie unsere Matratze bekamen.
Halfen Sie auch Wehrmachtsdeserteuren?
Die Deutschen zwangsrekrutierten diese Männer, gaben ihnen Uniformen und schickten sie in die Wehrmacht. Meine Aufgabe war es, die Uniformen der Deserteure wegzuwerfen. Ich warf sie in den Abwasserkanal, aber niemals in denselben. Sie verließen unsere Wohnung in Zivil. Im ersten Stock unseres Hauses wohnte ein jüdisches Paar, beide Gays. Meine Schwester fand ihre Identität heraus und spielte daher gelegentlich auf dem Klavier die Nationalhymne »Hatikwa«. Nach dem Krieg trafen sie sich und sie sagten: »Wir wussten, dass du das für uns spielst.«
Sie schrieben fünf Bücher über Ihr Leben. Warum erwähnten Sie die Rettungsaktionen nur knapp?
Ich mag keine Menschen, die eitel sind. Ob ich bescheiden bin? Als Liedermacher bin ich überhaupt nicht bescheiden, als Sänger auch nicht, nur im Leben bin ich bescheiden. Es ist sehr interessant, dass ausgerechnet ein Israeli – der Historiker Yair Auron, der den Völkermord an den Armeniern seit Jahrzehnten erforscht und unterrichtet – diese Geschichte aufschrieb. Dafür hatte er 2015 mich und meine Schwester Aida für sein Buch »Retter und Kämpfer« interviewt, das auch auf Englisch, Hebräisch, Armenisch und Französisch erschienen ist.
Neben der Wallenberg-Medaille werden Sie im jüdisch-arabischen Dorf Neve Shalom auch für die Rettungsaktionen ihrer Eltern geehrt. Was bedeutet das für Sie?
Ich bin sehr stolz darüber, dass meine Eltern nun gewürdigt wurden; und es ist wichtig, den Israelis zu zeigen, dass nicht die ganze Welt damals antisemitisch war. Und ich folge hier den Israelis. Bei diesem Besuch wollten mich auch Palästinenser treffen. Es wäre großartig, wenn ein Außenseiter, der weder jüdisch noch palästinensisch ist, beiden Seiten zum Dialog verhelfen könnte.
»Der Garten der Gerechten« in Neve Shalom ehrt, anders als die nationale Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, nicht nur Judenretter. Kennen Sie Yad Vashem?
Natürlich war ich dort. Bereits vor einigen Jahren regte ich die Errichtung einer armenischen Gedenkstätte zur Erinnerung an den Massenmord an, nach dem Vorbild von Yad Vashem. Wenn Sie einen Juden auf der Straße anhalten, in jedem Land weltweit, und über Israel fragen, würde er etwas darüber sagen können. Aber nicht alle Armenier kennen ihre Geschichte, obwohl: Früher waren es noch weniger. Menschen müssen ihre Wurzeln kennen, und Eltern sollen ihren Kindern ihre Religion und Muttersprache beibringen. Die sind sehr wichtig: Religion hält die Kinder auf dem richtigen Weg, und die Sprache eröffnet für sie die weite Welt.
Wie religiös war Ihre Familie?
Mein Vater kaum, meine Mutter ein wenig. Mein Enkel Jacob ist der einzige Jude in der Familie. Jacobs Vater starb in dem Jahr, in dem er seine Barmizwa feiern sollte, daher konnte er diesen Festtag nicht begehen. Als ich 2014 nach Israel reiste, nahm ich ihn daher mit. Ich hatte zuvor den Sohn eines berühmten Rabbiners kennengelernt, der helfen wollte. Und er organisierte tatsächlich eine Art Barmizwa in der Synagoge, die unmittelbar an die Klagemauer in Jerusalem angrenzt. Diese Zeremonie war für Jacob sehr emotional, und seitdem hält er die jüdischen Gebote ein, zum Beispiel die Speisevorschriften.
Wie wichtig ist für Sie die Anerkennung des Genozids an den Armeniern?
Es ist mir egal, ob die verschiedenen Staaten den Genozid anerkennen. Wichtig ist, dass sie den Massenmord anerkennen: Wie kann es sein, dass eine Million und 300.000 Menschen getötet wurden? Wenn das kein Genozid ist, dann gib mir einen besseren Begriff dafür! Ich kenne keinen. Ich habe noch nie ein schlechtes Wort über die Türken gesagt – ich bin doch nicht verrückt. Wenn ich ihnen einen Genozid vorwerfe, könnten sie jemand zu mir schicken, der mir womöglich etwas antut, also ... (Aznavour macht eine eindeutige Handbewegung an seiner Kehle.)
Erwarten Sie, dass Israel den Genozid an den Armenien anerkennt?
Ich verstehe nicht, warum sie ihn nicht anerkennen. Ich war befreundet mit Schimon Peres, habe ihn aber niemals danach gefragt. Das Gleiche gilt für Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, den ich kurz traf. Ich glaube, dass es normal wäre, dass die Juden die historischen Tatsachen anerkennen, auch wenn sie weiterhin die Einzigartigkeit der Schoa betonen. Vielleicht könnte eine solche Anerkennung auch die »Dickköpfe« – wie ich scherzhaft sage – dazu bewegen, das Gleiche zu tun (also die Türken).
Mit dem armenisch-französischen Chansonnier sprach Igal Avidan.
Charles Aznavour wurde 1924 in Paris geboren. Der Weltstar, der mit Chansons wie »La Bohème« oder »Que c’est triste Venise« berühmt wurde, hat in seiner mehr als 70 Jahre langen Karriere über 1000 Chansons komponiert und in Dutzenden Filmen mitgewirkt. Regisseure wie François Truffaut, Claude Chabrol und Volker Schlöndorff holten den Künstler vor die Kamera. Im August dieses Jahres erhielt er auf dem Hollywood Walk of Fame einen eigenen Stern. Aznavour ist auch für sein humanitäres Engagement, vor allem für Armenien, bekannt. 1995 bestellte ihn die UNESCO zum Sonderbotschafter für Armenien. 2009 wurde er armenischer Botschafter in der Schweiz.