30 Jahre Mauerfall

»Ich bin ja immer noch ich!«

Marion Brasch über Ostfrauen, die Jahre nach 1989 und den Rechtsruck in Deutschland

von Katrin Richter  02.11.2019 21:54 Uhr

»Ich fände es schön, wenn wir darüber sprechen, für welche Gesellschaft es sich zu kämpfen lohnt«: die Schriftstellerin Marion Brasch (58) Foto: Holmsohn

Marion Brasch über Ostfrauen, die Jahre nach 1989 und den Rechtsruck in Deutschland

von Katrin Richter  02.11.2019 21:54 Uhr

Frau Brasch, wie würden Sie sich beschreiben?
Eigentlich kann ich das nicht, weil ich mich nicht von außen betrachte und ich es auch gern anderen überlassen würde, dies zu tun. Mir fällt es schwer, mich charakterlich zu beschreiben.

Gibt es denn etwas, was Sie sich wünschen würden, das andere über Sie sagen?
Na ja, ich glaube, jeder wünscht sich, gemocht zu werden. Allerdings habe ich in den vergangenen Jahren gelernt, mich weniger darum zu scheren, was andere beziehungsweise fremde Leute über mich denken. Das ist ganz hilfreich, um konsequent das zu tun, was man möchte, und nicht das, was Leute erwarten. Bei Freunden ist das natürlich etwas anderes. Von denen glaube ich, dass sie mit mir befreundet sind, weil ich so bin, wie ich bin.

Was zeichnet Frauen Ihrer Generation aus?
Ich glaube, dass es »die« Frauen meiner Generation nicht gibt, weil jeder Mensch in ganz eigenen Zusammenhängen steht und geprägt ist von den Verhältnissen, in denen er (oder sie) aufgewachsen ist. Und so verschieden die Verhältnisse und Prägungen, so verschieden sind auch Frauen meiner Generation. Ich bin im Osten groß geworden und bin geprägt durch das Erwachsenwerden in diesem Land. Und aufgrund meiner Familienverhältnisse musste ich früh lernen, allein klarzukommen, unabhängig zu sein. Andere Frauen sind ganz anders aufgewachsen, und ich glaube auch nicht, dass das eine Generationenfrage ist.

Sondern?
Wir sind eine Nachkriegsgeneration. Wir tragen die Erfahrungen unserer Eltern in uns. In meinem Fall war es das Exil, meine Eltern mussten als Juden vor den Nazis nach England fliehen und sind danach in den Osten Deutschlands zurückgekehrt, um den Sozialismus aufzubauen. Das stand im Vordergrund, dem wurde auch die Familie untergeordnet. Das war sehr prägend.

Sind Sie denn eine typische Ostfrau?
Ich glaube, ja. Diese Erziehung zur Selbstständigkeit, selbst zu arbeiten, sich in keiner Weise materiell von Männern oder irgendjemandem sonst abhängig zu machen – das ist etwas, was wir quasi mit der Ostmuttermilch mitbekommen haben und wofür ich dankbar bin.

Wenn Sie auf die Marion Brasch von vor 30 Jahren zurückblicken – würden Sie ihr einen Rat geben?
Eigentlich denke ich nicht so viel darüber nach, wie ich mich verändert habe. Ich bin ja immer noch ich. Die Marion Brasch von vor 30 Jahren ist ja nicht weg, nur weil sie älter geworden ist. Vor 30 Jahren war ich 28 und war ein glücklicher Mensch in jeder Hinsicht. Aus heutiger Sicht gäbe es also nichts, was ich ihr dringend raten müsste, weil ich ja immer noch ein glücklicher Mensch bin.

Wie erinnern Sie sich an die Zeit des Mauerfalls nach dem 9. November 1989?
Der Fall der Mauer war für uns alle im Osten existenziell. Allerdings gehörte ich zu den Leuten, die dachten, es wäre eine gute Gelegenheit, mit diesem Land DDR etwas anderes, Besseres zu versuchen, statt uns gleich von der Bundesrepublik schlucken zu lassen. Es ist schade, dass wir uns nicht die Zeit genommen haben, darüber nachzudenken, sondern dass die D-Mark und das, was man uns als Freiheit versprochen hat, verlockender war. Verpasste historische Chance, finde ich. Abgesehen davon war mein Leben genauso aufregend wie das aller anderen, die plötzlich vor neue Tatsachen gestellt wurden. Aber ich bin da glücklich rausgekommen. Ich habe erst einmal weiter beim Radio arbeiten können. Und die schönste Zeit war die nach dem Mauerfall bis zur Wiedervereinigung.

Können Sie das Lebensgefühl von damals beschreiben?
Es war so viel möglich. Es gab eine Freiheit, wie ich sie vorher und auch nachher nie wieder erlebt habe. Jeden Tag passierte etwas Neues, das war eine Form der Anar­chie, die nicht bedrohlich, sondern hoffnungsvoll war.

Hatten Sie keine Angst?
Doch, auch. Aber die kam erst nach der Ernüchterung und mit der Wiedervereinigung. Niemand wusste ja, wie es weitergehen würde. Für mich bedeutete das auch Entlassung, denn der Radiosender, für den ich gearbeitet habe, wurde abgewickelt. Danach war ich schwanger und arbeitslos. Da hatte ich große Sorgen, wie ich mein Leben neu sortieren soll. Und dann gab es natürlich diese anderen Fragen und Ängste: Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda – da kochte plötzlich etwas hoch, womit niemand gerechnet hatte. Damals hatte ich auch für einen kurzen Moment den Gedanken, nach Israel auszuwandern. Und diese Sorgen wiederholen sich ja jetzt auf fatale Weise.

Haben Sie auch jetzt wieder das Gefühl, gehen zu müssen?
Ich will hier nicht weg. Ich hoffe nicht, dass ich das jemals ernsthaft in Erwägung ziehen muss. Aber es ist natürlich extrem besorgniserregend, wie sehr die Gesellschaft nach rechts rückt und wie stark nationalsozialistisches und rechtes Gedankengut wieder salonfähig und – was noch viel schlimmer ist – als »Alternative« wahrgenommen wird.

Gibt es eine Erfahrung aus den frühen 90er-Jahren, die Ihnen später genützt hat, um auf Situationen zu reagieren oder mit Herausforderungen klarzukommen?
Vielleicht gibt es nicht diese eine Sache. Vieles hat auch mit dem Erwachsenwerden zu tun. Es gibt diesen Punkt, an dem man sich sagt: Du musst dein Leben strukturieren. Du musst dich darum kümmern, dass du diesen Job bekommst. Geld spielte nach 1990 plötzlich eine Rolle. Mir wurde klar, dass diese Existenz auch fragil ist und dass ich meine Sachen auf die Reihe bekommen muss. Ich musste mich plötzlich mit Dingen beschäftigen, die vorher überhaupt keine Rolle gespielt haben, weil Geld in der DDR keine Rolle gespielt hat. Es gab ja nicht wirklich etwas, was man damit kaufen konnte. Aber dann musste ich mich plötzlich darum kümmern, wie ich meine Miete, die Versicherungen und den ganzen Kram bezahlen kann. Ganz neues Thema. Und: Ich musste lernen, mich durchzusetzen, nicht zu allem »Ja« oder »Ist doch egal« zu sagen und meine Interessen zu vertreten. Und zwar ohne Ellenbogen, denn die waren nicht sehr gut ausgebildet. Sind sie bis heute nicht.

Was ist geblieben von dem Land, in dem Sie aufgewachsen sind?
Nichts. Der Grüne Pfeil vielleicht, Rotkäppchen-Sekt und Knusperflocken. Und wir, die wir in dem Land gelebt haben. Ich denke in letzter Zeit oft: Wo bleiben die Utopien? Alle reden darüber, was schlecht ist, und dass es immer schlechter wird. Aber kaum einer entwickelt neue Visionen. Ich fände es schön, wenn wir nicht so viel darüber sprechen, wogegen wir sind, sondern wofür wir sein könnten, für welche Gesellschaft es sich zu kämpfen lohnt.

Könnten sich junge Frauen von heute vom früheren Frauenbild im »Osten« etwas abgucken?
Junge Frauen von heute sind total bei sich, kümmern sich um ihre Belange, haben den Feminismus neu für sich entdeckt. Das finde ich völlig in Ordnung, aber mich betreffen diese Debatten nicht so sehr. Und ich finde oft die Verkrampftheit, mit der sie geführt werden, anstrengend. Keine Frage, dass in vielen Bereichen von Gleichberechtigung noch nicht die Rede sein kann – und dass gegen Machtmissbrauch in welcher Form auch immer vorgegangen werden muss. Aber ich finde, dass die Empfindlichkeitsschwelle auch bei Debatten wie »MeToo« mitunter sehr niedrig ist. Manchmal reicht ein Spruch oder ein erhobener Mittelfinger, und es ist gut. Weniger twitternde Opferklage und mehr analoges Selbstbewusstsein – das wäre schön. Wie auch immer – ich möchte jetzt nicht mehr 20 sein.

Warum nicht?
Das hat mit dem immer größeren Druck zu tun, dem junge Leute heute ausgesetzt sind. Höher, schneller, weiter und dann noch dieses schöne verdammte Internet, von dem jetzt alle reden ...

Wie beobachten Sie das bei Ihrer eigenen Tochter?
Sie ist schon in diesem digitalen Universum zu Hause, aber sie definiert sich nicht darüber, es ist nicht ihr zweites Wohnzimmer wie für manch andere. Sie ist sehr geerdet und auch »analog« unterwegs. Das finde ich gut. Insofern ist alles in Ordnung.

Ihre Tochter hat sich auch mit der Geschichte der Familie Brasch beschäftigt und erzählt darüber in dem Dokumentarfilm »Familie Brasch« von Annekatrin Hendel. Es gibt darin ein wichtiges Zitat von Ihnen: »Ich war lieb.« Wie hat Ihnen dieses »Liebsein« geholfen?
Ich musste in dieser schwierigen Familie funktionieren, da blieb mir nichts anderes übrig, als »lieb« zu sein. Es hat ja gereicht, dass die anderen fünf in dieser Familie miteinander gekämpft und die Türen geschmissen haben. Ich war die Kleinste und habe intuitiv verstanden, dass ich funktionieren muss, um es nicht noch schlimmer zu machen. Zu meinem Schutz, aber vor allem auch, um meine Ruhe zu haben. Deshalb bin ich nicht weiter aufgefallen und habe nicht rebelliert wie meine Brüder. Allerdings war ich zu lange »unauffällig«, das ärgert mich heute. Etwas mehr Mut hätte mir mitunter ganz gut zu Gesicht gestanden. Den habe ich ziemlich spät für mich entdeckt.

Wie sind Sie mit den Konflikten und dem Schweigen in der Familie umgegangen?
Das ist schwer zu sagen. Es gab Momente der Harmonie, aber in der Erinnerung dominiert ja oft das Negative. Gab es bei uns Krach, habe ich mich in mein Zimmer zurückgezogen, Hörspiele gehört und die so laut gemacht, dass sie den Streit draußen übertönt haben. Aber das war nicht jeden Tag so. Das sind dunkle und einsame Momente, die stärker abgespeichert sind als die normalen, alltäglichen und leichten Tage, von denen es sehr viel mehr gab.

Beide Eltern mussten während der Nazzizeit ins Exil gehen. Hat das in der Familie Spuren hinterlassen?
Mit Sicherheit, aber ich weiß nicht genau, welche. Meine Mutter kam ja aus Wien nach England, und als mein Vater gesagt hat »Lass und nach Ostdeutschland gehen und den Sozialismus aufbauen«, hatte sie keine Lust dazu. Sie ist meinem Vater dann ein Jahr später gefolgt, nachdem sie lange darüber nachgedacht hatte. Sie wollte ja eigentlich Künstlerin sein, Schauspielerin, Sängerin. Aber diesen Traum von einem anderen Leben hat sie in England zurückgelassen. Ich glaube, dass sie darüber sehr traurig und auch verbittert war, doch als ich sie danach hätte fragen wollen, war sie nicht mehr da. Sie ist gestorben, als ich 14 war. Trotzdem glaube ich, dass sie mich auch in dieser Unzufriedenheit sehr stark geprägt hat.

Wie denn?
Indem ich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr gemacht habe, was man (also auch mein Vater) von mir erwartet hat. Ich habe einen richtigen Beruf gelernt, aber dann bin ich ausgeschert und habe Musik gemacht, die mich dann zum Radio gebracht hat, was ein großes Glück war, denn das war ein Traumjob. Und dann habe ich ja irgendwann auch angefangen, Bücher zu schreiben.

Ihr erstes Buch haben Sie einmal als Pflicht bezeichnet, Ihr zweites als Kür. Was ist denn Ihr neues Buch?
Das ist die Fortsetzung der Kür. Mit »Ab jetzt ist Ruhe« habe ich meine Familiengeschichte zu einem Roman verarbeitet. Das war die Pflicht mit Kür-Elementen. Danach habe ich zwei fiktionale Bücher geschrieben, die nichts mehr mit meiner Person zu tun hatten. Und auch der neue Roman »Lieber woanders« hat nur insofern etwas mit mir zu tun, als dass ich ihn geschrieben habe. Ich war Schriftsetzerin, heute bin ich Schriftstellerin.

Mit der Schriftstellerin und Hörfunkmoderatorin sprach Katrin Richter.

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