Porträt

»Ich bin ein Mischkonzern«

Rachel Braunschweig ist eine der erfolgreichsten Schweizer Schauspielerinnen und hat auch jenseits von Theaterbühne und Filmrollen viel zu sagen

von Nicole Dreyfus  05.12.2024 11:51 Uhr

»Ich werde selten gefragt, wie es mir geht«: Rachel Braunschweig vermisste nach dem 7. Oktober 2023 Rückhalt in ihrer Umgebung. Foto: Lara Raselli

Rachel Braunschweig ist eine der erfolgreichsten Schweizer Schauspielerinnen und hat auch jenseits von Theaterbühne und Filmrollen viel zu sagen

von Nicole Dreyfus  05.12.2024 11:51 Uhr

Scheinwerfer gehören zu ihrem Arbeitsplatz. Aber wenn sie spricht, braucht Rachel Braunschweig kein zusätzliches Licht. Dann erfüllt sie allein mit ihrer Präsenz den Raum. Ihr Gesicht ist ausdrucksvoll, die grünen Augen wach – und die Stimme? Klar und gleichzeitig sanft klingt die Schauspielerin, die man aus der Netflix-Serie Neumatt kennt, wenn sie von sich selbst sagt: »Ich bin ein Mischkonzern.«

Dass sie damit meint, sich am Filmset genauso zu Hause zu fühlen wie auf der Theaterbühne, ist offensichtlich. Das beweisen auch die zahlreichen Preise, die die 56-Jährige in den vergangenen Jahren abgeräumt hat. So erhielt sie unter anderem 2017 für ihre Darstellung der Theresa im international erfolgreichen Kinofilm Die göttliche Ordnung den Schweizer Filmpreis. Der Schweizer Fernsehpreis »Prix Swissperform« ging ebenfalls an Rachel Braunschweig, als sie 2021 bei den Solothurner Filmtagen als beste Nebendarstellerin für ihre Rolle der Staatsanwältin Anita Wegenast im Züricher Tatort »Züri brännt« (»Zürich brennt«) ausgezeichnet wurde.

»Es sind das Surbtaler und das osteuropäische Jiddisch, die in mir nachhallen.«

Ein doppeltes Heimspiel, denn die gebürtige Züricherin hat den Großteil ihres Lebens dort verbracht. »Mir wurde klar, dass ich mich im Rahmen meiner Freiberuflichkeit entscheiden musste: entweder das ewige Umhertingeln von Schauspielhaus zu Schauspielhaus oder ein fester Lebensmittelpunkt in einer Stadt mit Lebensqualität und Arbeit.« Rachel Braunschweig entschied sich für Letzteres, und zwar eben in Zürich, wo sie mit ihrem Mann, ebenfalls Schauspieler und Autor, und ihren beiden Kindern lebt.

Sauberstes Bühnendeutsch

»Damit halte ich mir nach wie vor im deutschsprachigen Raum alle Türen offen«, sagt sie. Wobei die Tochter eines Deutschschweizer Vaters und einer französischsprachigen Mutter, die ihre Wurzeln in der Westschweiz hat, mittlerweile auch mit französischsprachigen Rollen liebäugelt. Und obwohl Rachel Braunschweig das sauberste Bühnendeutsch beherrscht, spricht sie jenseits von Set und Maske ein wunderbares Zürichdeutsch, das vielleicht so manches Gegenüber, das sich mit ihr unterhält, an die eigenen Eltern oder Großeltern erinnert.

Genauso wie ihre Herkunft, die für das Schweizer Judentum exemplarisch ist. Mütterlicherseits liegen ihre Wurzeln in Polen, ein Teil der Familie ist nach der Schoa nach Israel ausgewandert. Väterlicherseits – der Name Braunschweig verrät es, weil er sich unter anderem mit Guggenheim, Bollag und Bloch in die Liste der spezifisch schweizerisch-jüdischen Familiennamen einreihen lässt – geht die Familiengeschichte zurück auf Endingen und Lengnau, zwei unscheinbare Dörfer im aargauischen Surbtal und damit den einzigen beiden Orten in der Schweiz, wo Juden bis zur völligen Gleichberechtigung 1866 leben durften.

Für Rachel Braunschweig ist es ein Leichtes, sich verschiedene Dialekte anzueignen, »aber es sind das Surbtaler und das osteuropäische Jiddisch, die in mir nachhallen«. So ist es alles andere als eine Plattitüde, wenn sie sagt: »Dieses umfassende jüdische Erbe prägt mich bis heute.« Genauso wie ihre Kindheit und Jugend, als sie zweimal die Woche den Religionsunterricht in der Kultusgemeinde besuchte und ihre Samstagnachmittage im zionistischen Jugendbund Hashomer Hatzair verbrachte. «Selbst wenn mein Vater bis heute ein links-intellektueller Kulturjude ist und wir innerhalb der Familie selten einer Meinung sind, so haben wir am Freitagabend zu Hause immer Kiddusch gemacht.«

Dieses Palimpsest ist Teil ihrer jüdischen Identität, insbesondere heute und damit in der Zeit nach dem 7. Oktober 2023. »Ich erinnere mich, dass ich früher meinen Vater oft belächelte, wenn ich ihn sagen hörte: ›Man muss immer bereit sein, die Koffer zu packen.‹ Seit dem 7. Oktober verstehe ich, was er damit meint.« Dieser Wind, der sich seit geraumer Zeit gedreht habe, wehe ihr als Jüdin und Schauspielerin, die sich in einem Künstlermilieu bewegt, immer wieder rau entgegen. Anfangs habe sie auch noch in den sozialen Medien Stellung bezogen, irgendwann zog sie sich zurück. Zu undifferenziert, zu einseitig waren die Kommentare.

Nach dem 7. Oktober startete sie eine Petition zu sexualisierter Gewalt im Nahen Osten.

Trotzdem bringt sich Rachel Braunschweig in den Diskurs ein. Sie fragt sich immer wieder, auch vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit als Schauspielerin und damit als öffentliche Person, welche Konsequenzen es für sie habe, sich als Jüdin zum Krieg im Nahen Osten zu äußern.

»Es geht mir nicht darum, in jeder Hinsicht eine Expertin zu sein. Aber als unmittelbar nach dem 7. Oktober klar wurde, dass den Frauen in Israel und im Nahen Osten sexualisierte Gewalt zugefügt wurde und immer noch wird, schien der Moment für mich gekommen, mich zusammen mit der Unternehmerin Rachel Manetsch und der Politologin Elham Manea zu positionieren.«

Kundgebung für einen humanistischen Feminismus und gegen die Doppelmoral

Die engagierten Frauen lancierten eine Petition gegen sexualisierte Gewalt im Nahen Osten und reichten diese bei der Bundeskanzlei in Bern ein. Zusätzlich organisierten sie eine Kundgebung für einen humanistischen Feminismus und gegen die Doppelmoral, die nach dem 7. Oktober zum Vorschein kam. »Es tat mir gut, mich dabei mit anderen Frauen und einigen Männern austauschen und vernetzen zu können und eine Stimme zu bilden, die bisher schmerzhaft vermisst wurde und so zumindest für einen Moment zu vernehmen war.« Umso mehr sei sie darüber bestürzt gewesen, wie sehr gerade im öffentlichen Diskurs darüber nach wie vor geschwiegen wird.

»Dieses Gefühl, auch in meiner unmittelbaren Umgebung wenig Rückhalt zu finden, war für mich sehr beklemmend. Ich wurde selten gefragt, wie es mir geht«, sagt die Frau mit den langen blonden Haaren. Obwohl sie die Grausamkeit der Massaker des 7. Oktober 2023 in ihrer vollen Wucht verarbeiten müsse, spüre sie die Nachwehen vor allem auch, wenn es um ihre mittlerweile erwachsenen Kinder geht, die sich vor Freunden oder in der Klasse rechtfertigen mussten. »Diesen Verteidigungsmodus werden wir nicht los. Da hilft auch ein reflektierter Ansatz wenig.« Das macht der Mutter eines 18-jährigen Sohnes und einer 20-jährigen Tochter zu schaffen. »Auch ihnen wird ständig das Bekenntnis abverlangt, sich vor dem Hintergrund des Krieges in Israel und im Gazastreifen zu positionieren.«

Sie sagt offen: »Diese momentan gehässige Stimmung, dieses Schwarz-Weiß-Denken, das nichts anderes zulässt als richtig oder falsch, gut oder böse, ist beängstigend.« Hier sieht sie einen klaren Ansatz: Aufklärungsarbeit leisten. Und der Film ist ihrer Meinung nach ein Beitrag dazu.

Doch noch werde, wie sie findet, das Judentum auf der Leinwand eher stereotypisiert erzählt. »Im deutschsprachigen Film gibt es eine lange und komplexe Geschichte von jüdischen Stereotypen. Diese reichen von dem klugen, aber nerdigen jüdischen Intellektuellen über die karikierte ›jiddische Mamme‹ bis hin zu oft einseitigen oder klischeehaften Darstellungen. Solche Stereotypen spiegeln nicht nur gesellschaftliche Vorurteile wider, sondern tragen auch dazu bei, diese zu reproduzieren und zu verstärken.«

Das Judentum, findet die Schauspielerin, wird auf der Leinwand eher stereotypisiert erzählt.

Jüdische Filmfestivals wie zum Beispiel das »Yesh« in Zürich, sagt Braunschweig, »spielen eine zentrale Rolle, um ein differenziertes und realistischeres Bild der jüdischen Kultur und Identität zu fördern. Sie bieten eine Plattform für Filme, die die Vielfalt des jüdischen Lebens darstellen – von Geschichten über Tradition und Religion bis hin zu modernen, säkularen und universell gültigen Themen und Perspektiven. Dadurch könnten sie Stereotype dekonstruieren und neue Narrative etablieren. Es sei wichtig, diese Geschichten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen: »Ich bin da ständig auf der Suche nach guten und vielschichtigen Stoffen und freue mich, wenn ich fündig werde.«

Vielleicht kann Rachel Braunschweig künftig ein Puzzlestück hinzufügen, wenn sie wie zum Beispiel in Andreas Dresens neuem Film In Liebe, Eure Hilde die Nebenrolle der jüdischen Schauspielerin Ella Karma übernimmt. Der Film feierte dieses Jahr seine Weltpremiere bei der Berlinale, wo er für den Goldenen Bären nominiert war. Am 22. Dezember sieht man Rachel Braunschweig wieder als Anita Wegenast im neuen Tatort »Fährmann« sowie als Katharina Wyss in der 3. Staffel von Neumatt auf Play Swiss. Der Film Friedas Fall kommt am 23. Januar 2025 in die Kinos – und Rachel Braunschweig in der Rolle der Erna Gmür (der Frau eines Gefängnisdirektors) damit in einer neuen ausdrucksstarken Charakterdarstellung auf die Leinwand.

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