Warum soll man schlechte historische Kriminalromane lesen, wenn man viel spannendere Bilder anschauen kann? Es ist bezeichnend für einen Chronisten der Weimarer Republik, wie den aus reiner Not zum Fotografieren gekommenen Juristen Leo Rosenthal (1884–1969) aus Riga, dass dessen wichtigstes Zeitzeugentum aus Gerichtsreportagen besteht beziehungsweise Foto-Gerichtsreportagen oder Fotos zu Gerichtsreportagen. Goldene Zeiten für dieses Genre mit den berühmten Texten von Gabriele Tergit, Sling (Paul Schlesinger) oder Inquit (Moritz Goldstein) waren die Jahre der Weimarer Republik.
promis Dabei gerieten Rosenthal neben müden Huren, deklassierten Menschen und Verbrechern aller Art auch allerlei Celebrities der Zeit vor die Linse. Vor Gericht treffen wir Adolf Hitler und Erich Mühsam, wir sehen die spätere DDR-Justizministerin Hilde Benjamin im Horst-Wessel-Prozess, den Schriftsteller Robert Musil, Joseph Goebbels, die Gebrüder Sass, bekannt für ihre genialen Bankeinbrüche, die Schauspielerin Tilla Durieux, den Sexualforscher Magnus Hirschfeld und andere mehr. Auch viele Anwälte in Posen, wie man sie aus John Grishams Romanen kennt. Entstanden sind so Porträts und Zufallstableaus, die nicht arrangiert sind, weil Rosenthal teilweise mit versteckter Kamera arbeiten musste, was angesichts der Größe der damaligen Apparate gar nicht so einfach war. Das Deutschland der 20er- und 30er-Jahre (1933 musste Rosenthal aus Berlin fliehen, später arbeitete er als Fotograf unter anderem für die UN in New York) erscheint in den hier versammelten Bildern sehr unstilisiert, unsymbolhaft, unarrangiert – und deswegen sind sie so wertvoll. Der »Führer« ohne gewollte Pose, dennoch posierend, die Integration der Individuen in völlig andere Kontexte (Musil im Gerichtssaal!) – all das macht den hohen Reiz der Fotos aus.
alltag Ein weiterer, kleinerer Teil des brillant gemachten Schirmer/Mosel-Bandes zeigt Rosenthals Arbeiten als Fotograf des Berlins der kleinen Leute. Auch da ist sein Auge für die absichtslos sich herstellenden Arrangements der Wirklichkeit frappierend. Ob Lastenträger im Park beim Frühstück, eine Gruppe sehr bürgerlich-adrett aufgemachter Damen beim Anschaffen, ein blinder Bettler mit liebevoll in eine Decke gehülltem Hund (direkt aus dem Beschreibungsinventar eines Erich Kästner), Mauerschmierereien (»Wählt Hitler! Juda den Tot«) und Entlausungsrituale in Obdachlosenanstalten – die Realität erzählt bei Rosenthal Geschichten, ohne dass er sie unter Zuhilfenahme von originellen Vorkehrungen, artifiziellen Perspektiven oder anderen Kunstmitteln dazu zwingen müsste.
Kluge Aufsätze runden den klugen Band ab. Besonders ein längerer Text von Bernd Weise – »Vom Verbrecherfoto bis zum Sensationsbildbericht« – belegt wieder einmal, wie vielfach vermittelt, kontextuell gebunden, geistes- und sozialgeschichtlich variabel der Umgang mit »Verbrechen« und »Kriminalität« generell ist. Und wie planetenfern weit entfernt von den dämlichen historischen Pseudokrimis, die zur Zeit grassieren.
»Leo Rosenthal. Ein Chronist in der Weimarer Republik«. Fotografien 1926-1933, hrsg. vom Landesarchiv Berlin und der Rechtsanwaltskammer Berlin. Schirmer/Mosel, München 2011, 160 S., 99 Tafeln in Duotone, 24 Abb.; 29,80 €