Es fing alles früh an, sehr früh – und irgendwie war im Leben von Lahav Shani auch alles ein bisschen anders als bei vielen anderen Musikern: praktischer, schneller, offener. Da war zum Beispiel sein erster Auftritt mit dem Israel Philharmonic Orchestra vor 13 Jahren, damals war er gerade 16 Jahre alt.
Das Konzert war ein großer Erfolg, und seither wurde der junge Mann regelmäßig nach Israel eingeladen, in den letzten Jahren nicht mehr als Pianist, sondern als Dirigent. Und nun wurde er – mit nur 28 Jahren – zum designierten Chefdirigenten des Orchesters ernannt.
fingerspitzengefühl Auf der einen Seite ist diese Geschichte logisch und konsequent, aber sie ist eben auch eine Sensation. Shani ist erst der zweite Chefdirigent des Orchesters, das 1936 von dem polnischen Geiger Bronislaw Hubermann gegründet wurde (zunächst als Ensemble für Musiker, die aus ihren europäischen Orchestern vor den Nazis fliehen mussten).
Arturo Toscanini dirigierte das Gründungskonzert 1936, Leonard Bernstein war dem Ensemble sehr verbunden, und Zubin Mehta wurde 1968 zum ersten Chefdirigenten ernannt. Damals war es auch ein politisches Zeichen, einen indischen Parsen zu wählen, von dessen politischem Fingerspitzengefühl das Orchester bis heute profitiert.
Inzwischen will der 81-jährige Maestro, trotz seiner Anstellung auf Lebenszeit, den Übergang ordnen. Und das hat er gemeinsam mit dem gewieften Manager des Orchesters, dem ewig neu denkenden Avi Shoshani, nun auch geschafft. 2020 wird Lahav Shani das Orchester übernehmen, als erster jüdischer Chefdirigent, als einer der jüngsten Orchesterchefs überhaupt, als Musiker, der besonders in Deutschland geprägt wurde: an der Hanns-Eisler-Musikhochschule, durch seinen Sieg beim Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb in Bamberg und durch seine Wahlheimat Berlin, wo er mit seiner Verlobten lebt.
Auch seine musikalische Sozialisation macht ihn anders als viele seiner Kommilitonen. Schon früh suchte Shani Kontakt in die Praxis. »Allein in die Musikhochschule zu gehen, reicht nicht«, sagte er auf die Frage, was ihm als Musiker wichtig ist. »Gerade in Berlin war ich dauernd in den Proben der großen Dirigenten; hier lernt man das richtige Handwerkszeug, vor allem, wie man mit einem Orchester umgeht.«
mentor Daniel Barenboim wurde zu einem seiner größten Mentoren. Von ihm hat Shani vielleicht auch die Überzeugung übernommen, dass Musik stets mehr sein sollte als die Kunst, großartige Klänge zu produzieren. »In einem Orchester ist die Zusammenarbeit zwischen Menschen ungeachtet ihrer Herkunft das wichtigste Element«, sagt er. »Am Ende geht es darum, dass 100 Leute auf der Bühne das Gleiche denken. Das ist ein zutiefst menschliches Gefühl. Es ist immer gut, ein Mensch zu sein.«
Bei der Suche nach einem Nachfolger für Zubin Mehta hatte das Israel Philharmonic Orchestra auch mit Gustavo Dudamel Gespräche geführt. Seinem Engagement stand wohl aber auch seine politische Positionierung in Venezuela entgegen – er galt lange Zeit als Liebling des viel kritisierten Regimes. Mit Kirill Petrenko war man ebenfalls im Gespräch, doch der entschied sich bekanntlich für die Berliner Philharmoniker.
Shani gilt in der Orchesterszene schon länger als Shooting-Star: Er ist seit dieser Saison erster Gastdirigent der Wiener Symphoniker und wird im September das Rotterdam Philharmonic Orchestra von Yannick Nézet-Séguin übernehmen. Das Besondere an ihm ist vielleicht die Vielfältigkeit seines Repertoires, das von Mozart über Beethoven und Mahler bis in unsere Gegenwart reicht. Aber es ist auch Shanis Bewusstsein, dass die Musik an sich nie Selbstzweck ist, sondern stets in der Welt stehen sollte – in einer Welt, deren Bewegungen Shani seismografisch beobachtet.
Lahav Shani gehört zu jenen Dirigenten, die sich durchaus einmischen. So kommentierte er das Ergebnis der Bundestagswahl im September 2017 ebenso deutlich wie kritisch: »Es tut weh, diese Entwicklung in Deutschland und allgemein zu sehen. In den vergangenen acht Jahren war Berlin für mich exemplarisch, reich an Kultur, Musik und Leben. Ich kann nur hoffen, dass es so bleibt.«
gespür Egal, wo Lahav Shani auftaucht – er wird nicht nur für seine fast musikantische Herangehensweise an die großen Partituren geliebt, sondern auch für seinen Dialog mit den Orchestern.
Anders als die Generation der patriarchalen Maestri setzt er auf ein gemeinsames Gefühl für die Musik, auf einen kollektiven Geist, den er nicht allein dadurch definiert, wie schnell ein Stück zu nehmen ist, sondern dadurch, ob man sich überhaupt auf einen gemeinsamen grundlegenden Ansatz des Musizierens verständigen kann. Damit meint Shani die Bedeutung der Musik an sich, das gemeinsame Gespür für den Umgang miteinander, den kulturell-humanistischen Geist und ganz besonders: das gemeinsame Verständnis für Humor.
Humor und Leichtigkeit braucht Lahav Shani in den nächsten Jahren wohl besonders. Im Gespräch mit dieser Zeitung erklärte er seinen frühen Erfolg einmal damit, dass es ihm stets gelungen sei, die Erwartungen möglichst niedrig zu halten. Doch nun wächst der Druck, zunächst in Rotterdam, aber auch in Israel, wo man genau verfolgen wird, was er sagen und tun wird, wie er sich positioniert, welches Repertoire er in Angriff nimmt.
Sicher ist, dass Shani gerade in diesen Zeiten, in denen Europa instabil ist und sich im Nahostkonflikt neue Gräben auftun, eine exzellente Wahl ist, denn er glaubt felsenfest an die ursprünglichste Kraft der Musik: an ihren Gemeinsinn und ihre humanistische Botschaft.