Auszeichnung

Hüterin der Erinnerung

Bewegt: Friedländer (M.) mit der von FU-Präsident Günter M. Ziegler und Dekanin Eun-Jeung Lee überreichten Ehrendoktorurkunde Foto: Margrit Schmidt

Hundert Jahre alt, seit mehr als einem Jahrzehnt als Zeitzeugin vor allem an Schulen engagiert, Bestsellerautorin und nun Ehrendoktorin der Freien Universität (FU) Berlin. Es ließe sich einiges an Superlativen über Margot Friedländer sammeln, so FU-Präsident Günter M. Ziegler in seiner Begrüßungsrede am Mittwoch vergangener Woche anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Die Veranstaltung im Henry-Ford-Bau der FU stieß auf derart großes Interesse, dass viele Gäste sie nur im Online-Livestream verfolgen durften. Die Laudatio hielt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.

»Ihre Leistung«, sagte FU-Präsident Ziegler an Margot Friedländer gewandt, »erinnert uns in greifbarster Form daran, uns mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, individuell, aber auch institutionell«. Die Freie Universität war erst 1948 gegründet worden, »es gibt jedoch genug Auseinandersetzungen, auch bei uns auf dem Campus«. Und durch Gemälde, Plätze, Straßen und Wege sei die FU ohnehin »auf die eine oder andere Weise mit den nationalsozialistischen Verbrechen verbunden, die uns täglich an die Notwendigkeit von Aufarbeitung und Gedenken mahnen«.

»Tief bewegt stehe ich hier vor Ihnen«, beginnt Margot Friedländer ihre Dankesrede.


Unermüdlich halte Margot Friedländer die Erinnerung wach, nach dem Motto: »Es darf nie wieder geschehen«. Demokratie als Auftrag, dem Gegenüber das Menschsein niemals abzusprechen, sei einer der vielen wichtigen Punkte, die Friedländer unermüdlich zu vermitteln versuche. Es sei »eine große Ehre, die Hand zu nehmen, die Sie uns gereicht haben«, betont Ziegler.

BERNSTEINKETTE Margot Friedländer, geborene Bendheim, trägt bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde wie immer die schwere Bernsteinkette, die ihre Mutter ihr am 20. Januar 1943 zusammen mit ihrem Adressbuch in einer bei Nachbarn deponierten Handtasche hinterlassen hatte. An diesem Tag war Margots vier Jahre jüngerer Bruder Ralph in der gemeinsamen Wohnung in der Kreuzberger Skalitzer Straße von der Gestapo verhaftet worden, und Mutter Auguste hatte beschlossen, sich der Polizei zu stellen und den Jungen zu begleiten.

Alle Versuche, Deutschland zu verlassen, waren zuvor tragisch gescheitert, unter anderem waren längst nach Brasilien emigrierte Angehörige auf teure Fälschungen hereingefallen und hatten nunmehr kein Geld, um erneut Einreise-Papiere für die Bendheims zu besorgen. »Versuche, dein Leben zu machen«, ließ die Mutter der damals 21-jährigen Tochter Margot resigniert ausrichten. Bruder und Mutter wurden in Auschwitz ermordet.

»Tief bewegt stehe ich hier vor Ihnen«, beginnt Margot Friedländer ihre Dankesrede. »Meine Mission, die für mich eine Herzensangelegenheit ist, glaube ich, mehr erfüllt zu haben«, wie es eben der Wunsch ihrer Mutter gewesen sei. Das sieht das Publikum genauso: Großer Beifall setzt ein.
Etwas mehr als ein Jahr hatte die junge Frau auf sich allein gestellt als Illegale in Berlin gelebt und dabei viel Solidarität, aber auch Ausnutzung und Missbrauchsversuche erfahren. Mehrmals entging sie nur knapp den Nazis und sogenannten Greifern, bis sie schließlich im Frühjahr 1944 bei einer Kontrolle verhaftet und ins Lager Theresienstadt deportiert wurde.

VERNICHTUNGSLAGER Vor dem Weitertransport in eines der Vernichtungslager im Osten rettete sie nur der Umstand, dass sie als Arbeiterin in Theresienstadt ausnehmend geschickt darin war, als Isoliermaterial genutzte hauchdünne Schichten aus Glimmersteinen abzutrennen. Dort traf sie Adolf Friedländer wieder, die beiden heirateten und emigrierten nach New York. 1997 starb er. Margot besuchte einen Schreibkurs und veröffentlichte schließlich 2008 ihre Erinnerungen.

Margot Friedländer sagt, sie habe ihre Rückkehr nach Berlin »noch nicht eine Minute bereut«.

»Ist Berlin nun für Sie das neue Berlin, oder wähnen Sie sich doch manchmal noch im Berlin Ihrer Kindheit?«, fragt der Historiker Paul Nolte in der auf die Verleihungszeremonie folgenden Gesprächsrunde. Als sie 2003 auf Einladung des Berliner Senats eine Woche in der Stadt verbrachte, sei ihr, berichtet Friedländer, bei einem Spaziergang mit Freunden am Kurfürstendamm ganz spontan der Gedanke gekommen: »Wenn ich jünger wäre, würde ich überlegen, zurückzukommen. Die schönen alten Häuser in der Mommsenstraße, mit dem vielen Stuck, das war noch mein Berlin, hier könnte ich leben, stellte ich mir vor.« Sieben Jahre später ging alles ganz schnell: »Innerhalb eines einzigen Monats bin ich mit Möbeln und allem zurückgekehrt, und ich habe noch nicht eine Minute bereut.«

Am Gespräch nimmt auch Vincent Bruckmann teil, der 2019 die erste Lesung von Margot Friedländer an der FU organisiert hatte und seither freundschaftlich mit der heutigen Ehrendoktorin verbunden ist. Er studiert Geschichte, sagt aber auch, dass seine Motivation für sein Engagement »sehr privat« sei: »Mein Großvater hat als Wehrmachtsoffizier an der Ostfront gemordet. Ich spüre schon sehr lange eine große Verantwortung, mit dafür zu sorgen, dass das nicht wieder passiert.«

Welche Frage er Margot schon immer stellen wollte? Es sind zwei: Die erste lautet, wie ihr Mann, der zeitlebens nicht zurück nach Deutschland wollte, den Umzug und ihr Engagement wohl sehen würde.

Adolf Friedländer hatte seine beruflichen Träume nicht mehr verwirklichen können.

Das frage sie sich auch »sehr, sehr oft«, antwortet Margot Friedländer. »Ich vermisse ihn, aber er ist immer noch mit mir«, sagt sie. Friedländer hat auf dem Grab ihres 1935 verstorbenen Schwiegervaters Ismar in Weißensee für die in Auschwitz ermordete Schwiegermutter Fanny eine Plakette anbringen lassen. »Mein Mann wollte zwar nie zurück, aber sein Vater und seine Mutter sind nun hier.«

PROMOTION Wie viele Überlebende des Nazi-Terrors hatte auch Adolf Friedländer seine beruflichen Träume nicht mehr verwirklichen können. Nach dem Studium an der Technischen Universität hatte der Diplom-Kaufmann eigentlich promovieren wollen, aber sein Doktorvater, der Wirtschaftswissenschaftler Julius Hirsch, emigrierte nach der Zwangsemeritierung 1933 zunächst nach Dänemark und von dort aus 1941 in die USA.

Am 30. Oktober 1952, seinem 70. Geburtstag, wurde Hirsch an der FU Berlin die Ehrendoktorwürde verliehen. Vielleicht, so wird in den Reden während des Festaktes angedeutet, wäre eine ähnliche Auszeichnung auch für Adolf Friedländer möglich, der in New York sehr erfolgreich für verschiedene jüdische Institutionen gearbeitet hatte. Sie habe ihm immer gesagt: »Ich habe keinen Doktor geheiratet, sondern dich, und das ist mir gut genug«, erinnert sich Margot Friedländer, räumt aber ein: »Vielleicht wäre es schön für ihn.«

Und wie, fragt Bruckmann dann, wird der 110. Geburtstag von Margot Friedländer gefeiert? Sie antwortet: »Mit etwas über 100 Freunden.«

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