Frau Waysfeld, wie würden Sie die »Seele des Jiddischen« beschreiben?
Meine Sicht auf das Jiddische hat sich im Lauf der Zeit sehr verändert. Am Anfang dachte ich: Okay, das ist Teil meiner Wurzeln, meiner Identität – aber kulturell gesehen, nicht religiös. Die Seele des Jiddischen war nicht gleich offensichtlich für mich. Meine eigene Seele, meine Familie, meine Wurzeln, das war etwas sehr Privates. Ich konnte nicht auf Anhieb diese Verbindung herstellen zur jüdischen Gemeinschaft, zu der ich eine zwiegespaltene Beziehung habe. Denn ich fühle mich einerseits in ihr zu Hause und andererseits auch nicht.
Der Titel Ihrer im Frühjahr erschienenen CD lautet »Soul of Yiddish«. Sie haben 2012 das Album »Kalyma« mit Texten aus sowjetischen Straflagern aufgenommen. 2015 folgte »Alfama«. Darin haben Sie das portugiesische Fado ins Jiddische übertragen. Wieso haben Sie sich jetzt wieder Jiddisch als Thema ausgesucht?
Die Idee dazu kam vom Cellisten Christian-Pierre La Marca, der mir vor drei Jahren, inmitten einer Schubert-Phase, sagte: Weißt du, wir kennen dich ja schon aus diesem Osteuropa-Komplex. Aber wir wollen deine Stimme auch bei diesen Liedern hören. Jeder wartet darauf. Ich reagierte in etwa so: Was für ein Unsinn! Ich will keine »Yidishe Mame« singen, nicht »Bay mir bistu sheyn«. Ich möchte Rachmaninow und Schubert singen. Punkt.
Was hat Ihre Meinung geändert?
Irgendetwas kam zu mir, das mir signalisierte: Ich liebe diese Musik, ich liebe diese Melodien – sie sind unglaublich. Aber ich musste diese Melodien nehmen und sie mit meiner Liebe zur klassischen Musik verbinden. Dieses Album ist eine Versöhnung, denn ich habe jetzt eine andere Brille aufgesetzt. Ich habe verstanden, dass es im Jiddischen eine Menge Freiheit gibt, viel Sinnlichkeit, etwas Strahlendes, Lichtbringendes – nicht mit dem Blick auf die Vergangenheit, nicht mit dem Blick in die Zukunft, sondern auf das Jetzt. Ich musste diese musikalische Reise machen.
Sie singen auf Jiddisch. Sprechen Sie es auch?
Für mich war immer klar, dass ich nur in der Sprache singen möchte, die ich auch richtig gut beherrsche. Ich habe Englisch, Italienisch, Russisch und Jiddisch gelernt. Aber die Musik zur Sprache ist das Größte und Wichtigste dabei. Ich habe an der Uni Jiddisch gelernt, ich kann es sprechen. Aber ich habe viel vergessen, denn es ist schwierig, in mehreren Sprachen perfekt zu sein. Und wenn es um Sprachen geht, kann ich sehr tyrannisch zu mir selbst sein. Ich fühle die Sprache.
Was fühlen Sie, wenn Sie Jiddisch singen?
Jiddisch ist sehr komplex. Man hat viele Laute, die durch die Nase gehen, wie in den Worten »Oygen«, »Farmakht« – und so kann man nicht singen. Aber es gibt in dieser Sprache so viel Fantasie, ich würde es fast schon Amüsement nennen. Russisch ist nicht die einfachste gesprochene Sprache, aber zum Singen ist sie wie Honig. Und bei den Aufnahmen für »Soul of Yiddish« habe ich Honig auf das Jiddische gelegt.
Waren Sie am Ende der Aufnahmen, nachdem Sie sich der Musik und der Sprache so intensiv genähert hatten, erleichtert?
Ich kann sagen, dass ich jetzt eine enorme Ruhe in mir habe. Mein Leben war hart. Und zum ersten Mal habe ich in diesem Moment gemerkt, dass ich auch eine sanfte Seite zulasse. Das scheinen die Zuhörer zu spüren, denn ich habe viele Rückmeldungen bekommen. Die Menschen sagen, dass sie die Lieder immer und immer wieder gehört haben.
Darunter sind Lieder von Autoren wie Itzik Manger, Halpern Leivick oder Ben-Zion Witler.
Der rote Faden, der sich durch das Album ziehen sollte, war das Symbol »Dhi goldene Pave«, der »Goldenen Pfau«. Er steht nicht nur in der jiddischen Kultur, sondern auch in anderen Kulturen für Freiheit, Sinnlichkeit und Fruchtbarkeit. In der jiddischen Tradition ist der Pfau die Figur für Kultur. Er ist ein mythologisches Symbol. Für mich war es eine Reise durch die Freiheit, eine Art Emanzipation. Jedes Lied soll zwei Dinge vermitteln. Zum einen: Du kannst alles sein, und alles ist möglich. Zum anderen: Der Weg ist das Ziel. Für mich als Künstlerin bedeutet das, dass ich frei bin zu arbeiten, zu suchen, alles Schritt für Schritt zu machen, um einen Sinn zu finden. Vielleicht ist der Weg, auf dem man sich befindet, manchmal auch falsch, aber das Ergebnis zählt.
Was ist die Geschichte hinter Rivka Kopé, der jiddischen Dichterin, deren Bild im Booklet zum Album abgedruckt ist?
Rivka war die Urgroßtante des Kontrabass-Spielers Antoine Rozenbaum. Antoines Mutter sagte mir vor Jahren einmal, dass ihre Großtante eine jiddische Poetin war, und fragte mich, ob ich Lust hätte, die Texte von Rivka Kopé zu lesen. Ich habe mich damals nicht sonderlich dafür interessiert, denn ich war in Schuberts »Winterreise« vertieft. Vor zwei Jahren habe ich dann doch einmal reingelesen. Und war absolut hingerissen: Ich entdeckte großartige und wundervolle Poesie. Ich rief Mascha Vogel an, eine Freundin von mir, die seit Kindertagen Jiddisch spricht, und sagte: »Ich glaube, ich habe die jiddische Marina Zwetajewa entdeckt.« Mascha las die Texte und sagte, dass Kopé wirklich wie Zwetajewa schreibe – nur eben auf eine glückliche Art und Weise. Und genau das war es: Jiddisch und glücklich? Jiddisch und leuchtend? Jiddisch und fröhlich? Das ist doch unglaublich!
Was bedeuten Ihnen die Texte von Kopé?
Es ist goldene Poesie. Rivka ist ein weibliches Vorbild. Sie steht für mich in einer Reihe mit Königin Esther aus der Bibel, der Fotografin Diane Arbus und Marina Zwetajewa – Frauen, die ihren Körper als Quell für Kreativität begreifen. Das Lied »Dans ma Chambre« beginnt wie die Oper »L’enfant et les sortilèges« von Maurice Ravel. Er stellt sich in seinem Zimmer eine komplett andere Welt vor. Und Rivka Kopé ist auf ihre Art genauso einzigartig. Sie schreibt zwar auf Jiddisch, aber ihre Texte erreichen eine viel größere Dimension. Ich mag es nicht, wenn Dinge von vornherein festgelegt werden, nach dem Motto: Das ist Jiddisch, also muss es so und so sein. Wenn ich Rivka Kopé lese, dann fange ich an zu träumen. Es ist wahre Poesie.
Sie haben eine Reihe von bedeutenden Frauen erwähnt. Eine ebenfalls bekannte Frau hat das Vorwort zu Ihrem Album geschrieben, nämlich die Rabbinerin Delphine Horvilleur. Wie kam es denn dazu?
Ich kenne Delphine seit vielen Jahren. Ich habe in ihrer Synagoge in Paris gesungen. Aber für »Soul of Yiddish« bin ich auf sie zugegangen und habe gesagt: Delphine, ich bin echt genervt. Ich bin zwar Jüdin, aber nicht religiös, ich sehe mich eher als kulturelle Jüdin. Ich bin eine Frau, aber mich haben immer auch die Männerrollen in Stücken interessiert. Ich möchte das Kol Nidre singen – was könnte ich dafür tun? Wir haben viel gemeinsam diskutiert. Sie sagte einfach: Mach es! Delphine Horvilleur ist für mich eine der faszinierendsten Frauen auf Erden, denn sie ist eine Rabbinerin, die von sich selbst sagt: Ich bin nicht nur Gelehrte, sondern auch Frau. Sie ist unglaublich intelligent und stellt immer Bezüge her. Alles wird bei ihr in einen Kontext aus Poesie, Literatur eingebettet. Ihr Text ist natürlich die Bibel, aber eben nicht ausschließlich.
Das Jiddische erfährt seit einigen Jahren eine Renaissance – nicht nur in der Musik, sondern auch in Filmen und Fernsehserien wie »Shtisel« in Israel. Warum, denken Sie, ist das so?
Das ist schwer zu sagen, aber vielleicht, weil es im Jiddischen eine gewisse Art von Humor gibt? Die Kultur ist so groß, dass sie die Menschen offenbar einfach fasziniert.
Die vergangenen eineinhalb Jahre waren wegen der Pandemie alles andere als einfach – besonders auch für Künstler. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich muss ehrlich sagen, dass es nicht ganz so schlecht war, denn ich hatte Zeit, mir über viele Dinge Gedanken zu machen. Über Sachen, die ich liebe, über meine Arbeit. Ich liebe Auftritte, aber sie verlangen mir alles ab. Ich hatte also in diesen Monaten Zeit, »Soul of Yiddish« aufzunehmen und ein weiteres Album über Maurice Ravel vorzubereiten. Jetzt habe ich allmählich wieder viele Auftritte. Darüber freue ich mich sehr. Es geht weiter!
Mit der Pariser Sängerin sprach Katrin Richter.
Noëmi Waysfeld: »Soul of Yiddish«, AWZ Records 2021