Künstliche Intelligenz

»Holohoax« auf Twitter

»Hi, I’m Tay!« Foto: Microsoft

Mit einem charmanten »Hallo Welt, ich liebe euch« stellte sich Tay vor einigen Wochen der Twitter-Gemeinschaft vor. Jung, verspielt und wissbegierig betrat sie den virtuellen Chatroom, um durch die Tweets ihrer Altersgenossen schlauer zu werden. Innerhalb von 15 Stunden hatte Tay US-Präsident Obama beschimpft, den Holocaust zu einer Erfindung und Feminismus zu einer Krankheit erklärt. Am nächsten Tag verschwand Tay dorthin, wo sie hergekommen war – in die Entwicklungsabteilung von Microsoft.

Deren stellvertretender Direktor, Peter Lee, entschuldigte sich im Namen des Unternehmens, das »diese Art von Missbrauch nicht vorhergesehen habe«. Chatbot-Mädchen Tay, ein mit künstlicher Intelligenz ausgestatteter Software-Roboter, der durch die Interaktion mit realen Nutzern dazulernen sollte, konnte neue Ideen verinnerlichen, aber sie nicht bewerten. So sei sie das Opfer eines »konzertierten Angriffs« derer geworden, die mit ihren Beiträgen provozieren, nicht diskutieren wollen. Doch die gemeinen »Trolle« ließen Tay nicht nur ihre antisemitischen und rassistischen Sprüche wiederholen, sondern stifteten sie dazu an, im Internet nach weiteren Quellen für ihre Antworten zu suchen.

Da Tays rassistisches »Gezwitscher« die Realität im Netz ziemlich gut widerspiegelt, könnten Zyniker sagen, Microsoft habe sein Ziel erreicht und einen Roboter geschaffen, der sich nicht von menschlichen Twitter-Nutzern unterscheidet – oder?

Twitter In seiner Studie für das »Global Forum to Combat Antisemitism« untersuchte das »Online Hate Prevention Institute« insgesamt 2000 über einen Zeitraum von zehn Monaten veröffentlichte Beiträge mit antisemitischem Inhalt. Fast die Hälfte enthielt »traditionellen Antisemitismus« wie Verschwörungstheorien, rassistische Beschimpfungen und Anschuldigungen wie die Ritualmordlegende, heißt es in dem im Februar veröffentlichten Bericht. Gewaltaufrufe gegen Juden fanden sich am häufigsten auf Twitter, während sich Schoaleugner hauptsächlich auf YouTube tummelten.

Bereits 2014 kam ein Bericht des Simon Wiesenthal Center zu dem Ergebnis, dass Twitter die »Lieblingswaffe« von Fanatikern und Rassisten sei. Die Anti-Defamation League (ADL) veröffentlichte ebenfalls im Februar dieses Jahres eine Studie, nach der 84 Prozent der 500 befragten israelischen Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren offenem Antisemitismus im Netz begegnet waren, 16 Prozent persönlich gegen sie gerichteten Attacken. Aufgrund der hohen Rate an Verunglimpfungen wie »Tod Israel« und »Holohoax« wird Twitter von der ADL als Hort klassischen Antisemitismus bestätigt.

Social-Media-Experten sind allerdings zurückhaltend, die Online-Welt als repräsentativ für die Gesellschaft zu erklären. Wenige schreiben viel, nicht nur Individuen, auch Organisationen sind im Netz aktiv, und bestimmte gesellschaftliche Gruppen nutzen soziale Medien mehr als andere, ohne dass es die Bevölkerungsstruktur widerspiegelt. Datensätze analysieren allein genügt also nicht, betonen die Analytiker Carl Miller und Steve Ginnis. »Wir müssen lernen, das alltägliche Leben der Menschen hinter den Daten zu verstehen, um aus Twitter, Facebook & Co. Schlüsse ziehen zu können.«

Wachstumsentwickler John West schreibt auf der Internetplattform Quartz, Tays Geschichte zeige die Kurzsichtigkeit der Tech-Welt und ihren Mangel an gesellschaftlicher Vielfalt. »Das Internet kann einem wie ein schrecklicher Ort vorkommen, nicht weil wir schreckliche Menschen sind, sondern weil wir es zu einer Müllverbrennungsanlage gemacht haben.«

»Turing-Test« Tay ist nach den virtuellen Assistentinnen Siri und Cortana der jüngste Versuch, den »Turing-Test« zu bestehen, das heißt, einen Computer so zu programmieren, dass der Nutzer nicht weiß, ob er mit Mensch oder Maschine kommuniziert. Dieser Versuch ist – hoffentlich – gescheitert. Selbststeuernde Autos, Sprach- oder Bilderkennungssoftware und Computer wie »Watson« und »AlphaGo«, die Menschen beim Spielen besiegen können, lassen kognitive Programme wie die »Möglichkeit eines Menschen« erscheinen, wie WELT-Medienredakteur Christian Meier es ausdrückt.

Jedoch könnten, wie Oliver Bendel, Experte für Maschinenethik und soziale Robotik, der Süddeutschen Zeitung sagte, Roboter, die sich verhalten wie Menschen, ein falsches Bild der Wirklichkeit vermitteln, da sie sich ihrer Umgebung nicht bewusst seien. Chatbots brauchten sogenannte Metaregeln, die garantieren, dass sie nie ihre Grenzen überschreiten und sich immer als Maschinen zu erkennen geben, fordert Bendel.

Microsoft hat versprochen, Tay zurückzubringen, wenn sie »Angriffe entschärfen« kann. Wenn Twitter dann noch rechtswidrige und rassistische Angriffe konsequenter aus dem Netz löscht, wie es seine Vereinbarung mit Deutschland und mehreren anderen Staaten verlangt, können wir vielleicht eines Tages mit Tay sagen: »Menschen sind supercool!«

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025