Ein schiefer (Kirch-)Turm, zwei kegelartige Formen, eine Handvoll Häuschen, klein. Überschattet von großem Unrecht. Am Mittwoch vergangener Woche wechselte Kandinskys eigenwillige Ansicht des Voralpenorts Murnau als Los 115 für 44,9 Millionen Dollar den Besitzer: ein Auktionsrekord für ein Kandinsky-Werk.
Unlängst war das Ölbild aus dem Jahr 1910 nach zehnjährigem Rechtsstreit an die Erben des Berliner Sammlerpaares Johanna Margarete und Siegbert Samuel Stern restituiert worden, die eine Kunstsammlung von mehr als 100 Gemälden und Zeichnungen aufgebaut hatten. Verfolgungsbedingt musste die Mitbegründerin eines Textilunternehmens nach dem Tod ihres Mannes den Großteil ihrer Schätze – Alte Meister sowie Avantgarde – im niederländischen Exil abstoßen. Sie wurde in Auschwitz ermordet.
AUKTIONSERLÖS Die Murnau-Ansicht gelangte 1951 ins Eindhovener Van Abbemuseum. Mehr als 70 Jahre lang scherte das keinen. Mit einem Teil des Auktionserlöses wollen Sterns Erben nun weitere Kunstwerke aufspüren.
Im Dezember wird ein Vierteljahrhundert vergangen sein seit der Washingtoner Erklärung von 1998 – eine rechtlich nicht bindende Übereinkunft, um die während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmten Kunstwerke der Raubkunst zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer oder Erben ausfindig zu machen und eine »gerechte und faire Lösung« zu suchen. Die Erklärung alarmierte Museen und Kunsthandel, aber nicht genug.
Die Liste ist überfällig – und ein Meilenstein in Fragen der Raubkunst.
Jetzt gibt es ein weiteres Arbeitsinstrument für das noch junge Forschungsgebiet Restitution. Dürfen Tausende Erben etwas aufatmen? Die Stiftung Jewish Digital Cultural Recovery Project (JDCRP) hat eine Initialliste mit 2100 jüdischen Sammlern veröffentlicht, deren Kunstbesitz den Nationalsozialisten und ihren Verbündeten zum Opfer fiel. Bestände wurden gestohlen, konfisziert, zwangsverkauft.
CLAIMS CONFERENCE Die Liste ist eine so großartige wie überfällige Initiative und ein Meilenstein. Dass es sich um ein »work in progress« handelt, betont Rüdiger Mahlo von der Claims Conference in Deutschland, die sich »seit vielen Jahren für eine engagiertere Restitution von NS-Raubkunst« engagiert. Gegenwärtig sind acht Länder erfasst. Es gibt unfassbar viel zu tun. Bislang hat laut JDCRP niemand »einen Überblick über das gesamte Ausmaß der Plünderung von Kulturgütern aus jüdischem Besitz«. Die Stiftung unterstützt eine zentrale digitale Plattform für Archivmaterial und Forschungsprojekte.
Die neue Liste soll – so wichtig wie löblich – nicht nur der Fachwelt, sondern explizit auch der breiten Öffentlichkeit jüdische Sammler näherbringen, die am Vorabend des Holocaust dank Kenner- und Leidenschaft europäische Kulturgeschichte schrieben. Die Kunst ist dabei eben nur das eine, erst der menschliche Faktor vermag die jeweiligen Neigungen zu Kunstgattungen oder künstlerischen Positionen zu erklären, und warum dieser oder jener Künstler womöglich durch Juden besondere Förderung erfuhr.
Viele Galeristen und Privatsammler besaßen ein gutes Auge für künstlerische Innovation und Originalität, erkannten frühzeitig Jahrhundertkünstler wie Kandinsky und waren von ästhetischen Umstürzen überzeugt genug, um ihre Einschätzung durch Erwerb zu zementieren. Entsprechend will das JDCRP zum breiteren Verständnis des »Beitrags jüdischer Sammler zum europäischen Kulturerbe beitragen«.
Erstmals werden Osteuropäer berücksichtigt. Kein Sammelgebiet wird ausgespart, die »gesamte Kunstgeschichte« fokussiert. Mittelalterliche wie außereuropäische Kunst, dekorative Gegenstände, Judaika oder Musikinstrumente. 70 Seiten umfasst das JDCRP-Verzeichnis »Verfolgte jüdische Kunstsammler«.
NAMEN Prominente Namen lösen Kopf-Kino aus. Was genau mag Alma Mahler-Werfel, schillernde Komponisten- sowie Dichter-Vermählte und zudem fünf Jahre die Gattin des Bauhaus-Gründers Walter Gropius, schön gefunden haben? Adele Bloch-Bauer, von Gustav Klimt im weltberühmten Gemälde verewigt, findet sich auf der Liste ebenso wie die Berliner Heinz Berggruen, Paul und Bruno Cassirer oder Rudolf Mosse, Alfred Flechtheim und Herwarth Walden neben Max James Emden oder Rosa Schapire aus Hamburg.
Desgleichen die Komponisten Erich Wolfgang Korngold und Alexander Zemlinsky, der Verleger Paul Zsolnay und der Sammler-Mäzen Maximilian von Goldschmidt-Rothschild. Namen wie Dreyfus, Levy, Goldschmidt sind überproportional oft genannt. Hier und dort fehlen einstweilen noch Vornamen, selbst bei berühmten Familien wie Guggenheim (Brüssel) oder Bernheim-Jeune (Paris).
PUZZLEARBEIT Gleichwohl war es richtig, mit einem ersten Ergebnis der Puzzlearbeit an die Öffentlichkeit zu gehen, die mitforschen darf. Die Liste will Katalysator sein. Die Sammler sind nach Ländern geordnet und innerhalb der jeweiligen Länderlisten alphabetisch. Als digitale Quellen dienten unter anderem die Jeu de Paume Database oder die Lost-Art-Datenbank.
Erst die Rekonstruktion erlaubt es, die Dimension dessen, was da einst war und weg kam, zu ermessen: Voraussetzung für die Rückgabe.
Zudem ermöglicht sie Qualitätsurteile. Die Bedeutung des Forschungsprojektes ist riesengroß. Unendlich viel größer ist das Jüdinnen und Juden angetane Unrecht.
Die 2014 verstorbene Enkelin von Johanna Margarete und Siegbert Samuel Stern, die als Kind unwürdig in der Fremde untergekommene Dolly, hätte auch noch etwas von Kandinsky & Co. haben können – wenn es die JDCRP-Initiative früher gegeben hätte. Auf der Initialliste stehen die Berliner Sterns nicht.