Familienbiografie

Hoffnung für die Zukunft

Eindrücke einer Lesereise von Ichenhausen bis Tel Aviv

von Rafael Seligmann  12.12.2022 13:31 Uhr

»Es gibt viele Methoden, mit dem Antisemitismus umzugehen. Tatsächlich aber verletzt Hass dauerhaft jeden«: Rafael Seligmann Foto: picture alliance/dpa/dpa Pool

Eindrücke einer Lesereise von Ichenhausen bis Tel Aviv

von Rafael Seligmann  12.12.2022 13:31 Uhr

Wer seine Familie, sich selbst und Deutschland besser kennenlernen möchte, schreibe eine Familienbiografie. Ich habe es getan, um meinem Vater und dem deutschen Judentum des 20. Jahrhunderts ein Andenken zu setzen. Ludwig wurde 1907 in der Kleinstadt Ichenhausen als Sohn des Kaufmanns Isaak Raphael Seligmann geboren. Vaters Leidenschaft gehörte dem Gesang im Synagogenchor und dem Fußballspiel.

In Ichenhausen lebten bereits seit 600 Jahren Juden. Sie bildeten die größte jüdische Landgemeinde Bayerns. Mit der Reichsgründung 1871 erlangten die Juden die formale Gleichstellung – offener Antisemitismus machte sich in Ichenhausen erst während der Wirtschaftskrise ab Ende der 1920er-Jahre bemerkbar. Auch in Ichenhausen entstand eine Nazi-Bewegung, Juden wurden angegangen und misshandelt. Kurz nach der Machtübernahme der Nazis 1933 floh Ludwig vor der SA. Vater, den die Ichenhausener einst mit dem Ruf »Lauf, Ludwig, lauf!« angefeuert hatten, musste nun vor ihnen davonlaufen.

Die junge Generation empfindet Mitgefühl und Empathie.

Im Deutschland des Jahres 1957 setzt das Buch Rafi, Judenbub. Die Rückkehr der Seligmanns nach Deutschland ein. Die Jahre der Nazi-Herrschaft haben die antijüdischen Vorurteile bei vielen verfestigt. Nur Einzelne bemühen sich, den Hebräern beizustehen. Die Juden bleiben im Bewusstsein der meisten Deutschen Fremde. Als Zehnjähriger wurde ich durch die Vorurteile von Lehrern, Mitschülern und Lehrlingen zum Außenseiter. Ich flüchtete in Tagträumereien – versagte in der Schule und wurde in eine Lehre gesteckt. Hier erwacht mein Ehrgeiz. Ich erwarb das Abitur und verliebte mich in Ingrid, eine »Schickse«. Deren Eltern beschimpfen ihre Tochter ob ihrer »Rassenschande«. So entstand eine deutsch-jüdische Symbiose aus Vorurteilen. Entgegen meinem Jugendtraum, nach Israel auszuwandern, blieb ich in Deutschland. Hier endet das Buch. Die Diskussion mit den Lesern kann beginnen.

Ichenhausen, 21. März 2022

Ich wollte mein Vater-Buch in der Synagoge seiner unbeschwerten Jugend vorstellen. Im Barockbau hatten unsere Vorväter gebetet. Das Gotteshaus war von den Nazis während der Kristallnacht 1938 geschändet worden. 1942 wurden alle verbliebenen Juden deportiert und ermordet. Nach dem Krieg wurde das Haus zur Feuerwehrstation umgebaut. Eine erneute Schändung. Erst 1985 wurde der Bau res­tauriert – statt einer Synagoge entstand eine Gedenkstätte.

Adolf Hitler war seit 1933 Ehrenbürger Ichenhausens. Nun stellte sich Bürgermeister Strobel an die Spitze jener, die die Hitler-Ehrung nach mehr als 60 Jahren Demokratie endlich beendeten.

Auf meine Bitte erheben sich die Hörer der Lesung zu einer Gedenkminute für meinen Vater. Er bleibt freilich aus den Annalen des örtlichen Fußballvereins gelöscht, für den er so gerne gespielt hatte. Als »Ersatz« überreicht man mir einen Fetzen Papier. Man sei stolz auf den »Fußballkameraden« Ludwig Seligmann.

Das Klima in der schwäbischen Kleinstadt wandelt sich schneckengleich. Mitte der 80er-Jahre war ich am Ort noch als »Saujude« beschimpft worden. Doch die Stadtarchivarin Claudia Madel-Böhringer wird nicht müde, über die Geschichte der jüdischen Gemeinde aufzuklären. Vor allem unter jungen Leuten verbreitet sie dieses Wissen. Dass das Andenken an die Juden Ichenhausens Neugier erweckt, ist nicht zuletzt ihrer Arbeit zu verdanken. Meine Vater-Bücher stoßen auf reges Interesse. Der Germanist Klaus Wolf hatte in Zeitungen die Leser dafür gewonnen. Er nennt dabei die Seligmanns die »Buddenbrooks von Ichenhausen«. Ein gut gemeintes Kompliment. Doch Weltkriege und der Völkermord sind unvergleichlich.

München, 23. März 2022

Die fast 90-jährige Gemeindepräsidentin Charlotte Knobloch weist in ihrer Begrüßungsadresse im Hubert-Burda-Saal der Israelitischen Kultusgemeinde auf die Bedeutung der Landjuden als unverzichtbare Wurzel des deutschen Judentums hin. Die Moderation des Gesprächs übernimmt der frühere Oberbürgermeister Christian Ude, der stets mehr war als ein politischer Macher. Er ist Kabarettist, Journalist, Buchautor – kurz, ein Humanist.

Das beweist er im Dialog. Dabei geht Ude auf den Handlungsspielraum des Buches in den 50er- bis 70er-Jahren ein. Da wurden die überkommenen Nazi-Klischees im Bürgertum mit einem Tarnbelag scheinbar objektiver (Vor-)Urteile überzogen. Ich soll über die bleibenden antijüdischen Aversionen eines Hochschullehrers vorlesen. Gegen Juden hatte der Professor nichts, »nur« gegen deren »hemmungslosen Ehrgeiz« und ihre »Skrupellosigkeit«. Diese Haltung ging über in einen Anti-Zionismus, der den ursprünglichen Antisemitismus mit neuer ideologisch getönter Mimikry tarnen wollte. Diese Tendenz nimmt seither ständig zu.

Berlin, 24. März 2022

Die Lesung ist in einen Dialog zwischen Hetty Berg und mir eingebettet. Die Direktorin des Jüdischen Museums interessiert besonders, wie es mir als jüdischem Kind in Deutschland erging. Wie übersteht eine Kinderseele ständige Anfeindungen und Benachteiligungen? Durch Flucht in eine Traumwelt. Und wie entwickelt man Selbstbewusstsein? Indem ich allmählich begriffen habe, dass ich aufwachen muss. Dass verletzte Gefühle nicht weiterführen.

In der Lehre musste ich mich gewaltsam zur Wehr setzen, Ehrgeiz entwickeln, um die berufliche Herausforderung zu bestehen, wieder die Schulbank zu drücken, das Abitur nachzuholen und Geschichte zu studieren. Woher ich die Kraft nahm? Vor allem aus Liebe – der Eltern, der nichtjüdischen Geliebten. Trotz bestehender Vorurteile.

Frühjahr 2022

Die Fragen bleiben prinzipiell gleich – in Bonn und Mainz, wo mich die Nähe zu dem mehr als 1000 Jahre alten Friedhof begeistert. In Hamburg hat der Vorsitzende des Jüdischen Salons am Grindel, Michael Heimann, ein pralles Manuskript voller Beobachtungen, Anmerkungen, Erkundigungen. Sie alle laufen auf die Frage hinaus: Wie kann man als Jude nach dem Genozid in Deutschland leben und seelisch heil bleiben? Darauf gibt es Hunderttausende Antworten – für jeden Juden eine –, unbefriedigende.

Wien, 9. Mai 2022

Im Jüdischen Museum Wien habe ich mir meinen Sohn Jonathan als Moderator gewünscht. Den 30-Jährigen beschäftigt die Zukunft. Wie können Vorurteile abgebaut werden? Durch unentwegten Dialog. Hörer berichten von ihren Erlebnissen, ihren Ängsten, Sehnsüchten nach Israel – obgleich es auch da keinen Frieden gibt.

Tel Aviv, 30. Mai 2022

Es trifft sich gut, dass die nächste Lesung im Goethe-Institut Tel Aviv stattfindet. In deutscher Sprache – aber mit weniger deutschen Judenängsten. Frau M. meint, ihr sei in Deutschland kein Antisemitismus begegnet. Das widerspricht den Berichten in Zeitungen und des Verfassungsschutzes, vor allem persönlichem Erleben. »Mein Vater sagte, wenn jemand zu Juden frech wird, muss man ihm in den Hintern treten, dann ist Ruhe.« Bislang hat die Methode die Antisemiten nicht entmutigt.

Herbst 2022

Nach Lesungen in Ulm und im Rheingau trage ich in Neuss nur kurz aus meinem Roman vor. Schwerpunkt ist ein Vortrag mit dem Titel »Die Judensau muss weg!«. Der Rathaussaal ist voll. Das Thema macht das Publikum neugierig. »Was steckt dahinter?«, will Bürgermeister Breuer wissen.

Die Forderung, endlich mit konkreten Maßnahmen gegen Antisemitismus ernst zu machen. Die judenfeindlichen Plastiken von Kirchen in Wittenberg, Köln, Regensburg und anderen deutschen Städten zu entfernen. Und auf der documenta Schluss mit dem antisemitischen Wahnsinn zu machen, der sich wieder hinter der »Judensau« versteckte. Israelische, ja jüdische Künstler waren de facto ausgeschlossen. 84 Jahre nach der Pogromnacht!

»Worte! Worte! Keine Taten! (…) / Immer Geist und keinen Braten«, reimte Heinrich Heine. Wann endlich begreift man die Mahnung des Dichters und geht energisch gegen Judenfeinde und Antihumanisten vor? Erst dann macht der öffentliche Dialog Sinn.

Frankfurt, 21. November 2022

Mein Freund Dirk N. leitet eine Investmentfirma am Main. Er ist Literaturfreund und legt Wert darauf, seine Mitarbeiter über den Tellerrand des Finanzgeschäfts hinausblicken zu lassen. Daher lud er mich ein, vor der Belegschaft seiner Mitarbeiter aus meinen Büchern zu lesen und anschließend mit ihnen zu diskutieren.

Die zumeist jüngeren Männer und Frauen sind leger gekleidet. Weiße Hemden oder Blusen sind jedoch obligatorisch. Ihre Anmerkungen sind präzise und analytisch. Im Zentrum stehen die Fragen, weshalb Juden gehasst werden und wie sich Israels Politik für die Juden in Deutschland auswirkt.

Ich bin überzeugt, dass die Tochterreligionen des Judentums, das Christentum und der Islam, den nachhaltigsten Judenhass verbreiteten – es teilweise weiterhin tun. Die Juden wurden als »Gottesmörder« beziehungsweise als »Feinde des Propheten« denunziert.

Die Juden der Diaspora sind keine israelischen Diplomaten, Christen keine Botschafter der Kurie, sie werden nicht für deren Verfehlungen verantwortlich gemacht.

Otto-Hahn-Gymnasium Marktredwitz, Fichtelgebirge, 22./23. November 2022

Schuldirektor Stefan Niedermeier ist Historiker und Germanist. Er hat mich unentwegt aufgefordert, vor seinen Schülern und den Bürgern seines Städtchens aus meiner Familienbiografie Rafi, Judenbub zu lesen und sie meine Gefühle und Gedanken entdecken zu lassen. Das Otto-Hahn-Gymnasium will eine »Schule ohne Rassismus« sein. Die Jugendlichen sollen mit einem Juden Aug’ in Aug’ diskutieren. Die »Erwachsenen« stellen abends die gewohnten Fragen: Weshalb meine Eltern trotz der Schoa nach Deutschland zurückgekehrt seien? Mit welchen Mitteln sich Antisemitismus am besten bekämpfen ließe? Et cetera. Nichts Neues.

Am nächsten Morgen drängen sich 600 Schüler in der Aula des Gymnasiums. Nach meiner Lesung herrscht zunächst Beklommenheit. Die Schüler am Ort ohne Juden hatten angenommen, mit dem Ende des NS-Reiches wäre auch der Antisemitismus in Deutschland verschwunden. Um die Stimmung aufzulockern, erzähle ich einen jüdischen Witz, Pointe: Der kleine Moische preist Jesus, um eine Prämie zu erhalten. Das bricht das Eis. Immer mehr Fragen kommen aus dem Schüler-Meer. In zahlreichen Varianten wird mir die immer gleiche Frage gestellt: »Wie halten Sie diesen Hass aus?«

Es gibt viele Methoden, mit dem Antisemitismus umzugehen. Gespräch, Streit, Überzeugungsversuche, Arroganz, gespielte Gleichgültigkeit, Resignation. Tatsächlich aber verletzt Hass dauerhaft jeden.
Nach knapp vier Stunden beendet Direktor Niedermeier die Veranstaltung. Spontaner, donnernder Beifall. Herzerwärmend! Die junge Generation empfindet Mitgefühl, Empathie. Das macht Hoffnung für die Zukunft.

Rafael Seligmann: »Rafi, Judenbub. Die Rückkehr der Seligmanns nach Deutschland«. Langen Müller, München 2022, 400 S., 25 €

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