Auch in musikalischer Hinsicht hält das andauernde Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« viel für die Zuschauer bereit: An der Oper in Kiel stand am 26. März die wegen Corona verschobene Premiere der Grand Opéra La Juive (Die Jüdin) von Fromental Halévy (1799–1862) auf dem Programm. Und vor Kurzem war im Theater Magdeburg die um fast 90 Jahre verspätete Uraufführung der Oper Grete Minde von Eugen Engel zu erleben.
SCHICKSAL In beiden Fällen ist die Verbindung der Kunstanstrengung zum Jüdischen exemplarisch. Bei der einst populären und in den vergangenen Jahren wieder häufig inszenierten, 1835 uraufgeführten französischen Grand Opéra geht es um ein Einzelschicksal. Im Falle von Grete Minde ist es der jüdische Komponist Eugen Engel (1875–1943) selbst, der in Sobibor, dem Vernichtungslager der Nazis, ermordet wurde. Seiner Tochter war es gelungen, bei ihrer Flucht in die USA auch einen Klavierauszug der einzigen Oper ihres Vaters zu retten.
Die Geschichte der Oper spielt am Rande des Konzils von Konstanz 1414.
In Halévys Die Jüdin steht eine ergreifende Geschichte am Rande des Konzils von Konstanz im Mittelpunkt, mit dem 1414 der katholische Sieg über die aufmüpfigen Hussiten gefeiert wurde. Der reiche und selbstbewusste jüdische Goldschmied Éléazar hält sich nicht an das Gebot der allerchristlichsten Sonntagsruhe. Seine Tochter Rachel hat sich obendrein in den Reichsfürsten Leopold verliebt, der die Jüdin über seine wahre Identität als Christ erst aufklärt, als es zu spät ist.
Vor diesem Hintergrund bewegt sich die Spirale der Eskalation von Hass auf allen Seiten geradezu zwangsläufig. Erst als die Katastrophe nicht mehr abzuwenden ist und der siedende Kessel schon bereitsteht, in dem Rachel hingerichtet werden soll, offenbart Éléazar seinem Gegenspieler Kardinal Brogni triumphierend, dass der gerade seine eigene, totgeglaubte Tochter in den Tod schickt. Die hatte der Jude einst gerettet und selbst als seine Tochter und als Jüdin aufgezogen. Spätestens dieser Coup im »Nathan der Weise«-Format berührt – und krönt den gewaltigen Orchester-, Chor- und vokalen Aufwand sowie seine emotionale Wucht.
Den großen Bühnenerfolg dieser Oper beendete erst der Rassenwahn der Nazis. In Kiel beispielsweise erlebte Die Jüdin am 12. Februar 1932 die für mehr als ein halbes Jahrhundert letzte Premiere im 20. Jahrhundert. Auch in München und Wien hielt sich das Stück noch bis 1931 beziehungsweise 1933 auf dem Spielplan. Seine Rückkehr begann erst Ende der 80er-Jahre.
INTERPRETATIONEN Spektakulär war Günter Krämers Wiener Staatsopern-Inszenierung 1999 mit Neil Shicoff als Éléazar, die dann auch an die MET, nach Israel und ans La Fenice reiste. Nachfolgende Interpretationen wie zum Beispiel die von Peter Konwitschny (2015 Flämische Oper) und Calixto Bieito (2016 München) fokussierten sich auf die elementaren Konflikte zwischen Menschen und Ideologien, die der konkreten historischen Geschichte zugrunde liegen.
Der Starlibrettist Eugène Scribe lieferte die Textvorlage.
Allein schon, dass Kiel mit einer Neuinszenierung des Werkes an die von 1932 sozusagen anknüpfen kann, verleiht der Aufführung eine historische Dimension! Dass es dabei heutzutage und hierzulande nicht um ein opulentes Historienspektakel gehen kann, versteht sich angesichts von Real- und Werkgeschichte von selbst. Wobei auch schon im 19. Jahrhundert eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem europäischen Judenhass hinter allem Ausstattungspomp erkennbar blieb. Immerhin hatte der Starlibrettist des Jahrhunderts, Eugène Scribe, die Textvorlage geliefert, in der die Charaktere auf allen Seiten ihre Brüche haben.
Dass die Titelfigur nicht durch Geburt, sondern durch ihre Sozialisierung als Jüdin lebt, ist eine dialektische Pointe, der nachzuspüren lohnt, weil sie ein Plädoyer gegen jeglichen Fanatismus liefert. Für Regisseurin Luise Kautz ist neben den Besonderheiten des Genres Grand Opéra der Umgang mit den auch antisemitisch gezeichneten Figuren im Stück gerade »vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit« eine besondere Herausforderung.
Daneben fasziniere sie die Entwicklung der Masse und wie sich »diese Gruppe radikalisiert und zu einem mordenden Mob wird, der die Oberhand gewinnt«, so die Regisseurin. Für sie wirke das Stück wie eine Zukunftsvorhersage aus der Vergangenheit, »die heute erschreckender Weise immer noch die Zukunft thematisiert«. Daniel Carlberg ist der Dirigent der Premiere am 12. März, Anton Rositskiy wird als Éléazar und Angélique Boudeville als Rachel zu erleben sein.
KRIEG Auch Grete Minde hat einen historischen Bezug. Der führt nicht gleich bis ins 15., aber doch ins 17. Jahrhundert, kurz vor den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Die historische Grete Minde wurde für den Tangermünder Stadtbrand von 1617 verantwortlich gemacht und hingerichtet.
Diese Magdeburger Uraufführung ist so etwas wie ein überfälliger musikalischer Stolperstein.
In der Version von Theodor Fontane, auf der das Libretto beruht, ist es der spektakuläre Selbstmord einer verzweifelten Titelheldin, die ihr Recht nicht bekam und mit ihrer Rache die ganze Stadt mit sich in den Abgrund riss. Hier treibt der rumorende Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten auf die Katastrophe zu. Wobei die Hardcore-Lutheraner die Tochter einer katholischen Mutter durchweg schlecht behandeln und die Katholiken im Stück deutlich besser wegkommen.
Bei der Magdeburger Generalmusikdirektorin Anna Skryleva zündete schon der erste Blick in die Noten, sie vermochte sich den großen Orchesterklang sofort vorzustellen. Aus der individuellen Faszination wurde ein kollektiv bestauntes Ereignis. Mit der Musik eines Autodidakten, die mit all ihren (Rück-)Blicken auf Wagner, Strauss und die Spätromantik fasziniert und bei der solides und für Stimmen gedachtes Komponieren im Schatten der Großen, vor dem Ehrgeiz nach Aufbruch in die Moderne steht.
Olivia Fuchs (Regie) und Nicola Turner (Ausstattung) sind mit ihrer Überblendung der Zeitebenen von 1617, der Fontane-Zeit und der 40er-Jahre eher halbherzig. Ein paar in der Bühnenmitte platzierte Koffer als Verweis auf die Schoa bleiben so Behauptung.
Gleichwohl ist diese Magdeburger Uraufführung von besonderer Art, so etwas wie ein überfälliger musikalischer Stolperstein. Vor seiner letzten Wohnung in Berlin erhielt ihn Engel 2019. Die Inschrift spricht für sich: »Hier wohnte Eugen Engel, Jg. 1875, Flucht 1939 Holland, interniert Westerbork, deportiert 23.3.1943 Sobibor, ermordet 28.3.1943«.
»Die Jüdin« wird am 10. April, 15. April, 17. April und 24. April am Theater Kiel erneut gezeigt.