Auf den ersten Blick ist der knapp 40-jährige Mann mit brustlangem Bart, dunkler Sonnenbrille und beiger Strickjacke ein ganz normaler Bewohner der Trabantenstadt im Norden Tel Avivs. Avishai Cohen sitzt im Park zwischen den Hochhäusern, deutet auf den »Kindergarden« seines Sohnes vis-à-vis und den 60er-Jahre-Wohnblock in seinem Rücken: Hier ist er aufgewachsen – hier ist er zu Hause.
Aber dieser »Normalo« aus Tel Aviv hat noch eine zweite Seite, auf die schon die großflächigen Tattoos auf seinem Oberkörper und die Siegelringe an den Händen hindeuten: Dieser Hipster ist von Beruf Trompeter und derzeit der heißeste Jazz-Export Israels.
Das ist zwar schon seit Längerem bekannt, aber spätestens, seit Avishai Cohen sein neues Album Into the Silence beim renommierten Münchner Jazz-Label ECM veröffentlicht hat, ist seine Qualität für jedermann in- und außerhalb Israels nicht zu überhören. Von der New York Times über den Guardian bis hin zur Süddeutschen Zeitung überbieten sich die Edelfedern an Lobpreisungen von Cohens neuem Album – und das völlig zu Recht.
Miles Davis Das Faszinierende an den sechs Eigenkompositionen ist die Tatsache, dass klanglich und melodisch rein gar nichts auf Cohens Heimat hindeutet, sondern vielmehr auf New York City, jenem Hotspot des Jazz, wo Cohen seine ersten Sporen als Musiker verdient hat. Dort ist er ins Rampenlicht der Jazzgemeinde getreten, indem er Hard Bop in der Nachfolge von Miles Davis und Don Cherry in seinen Musikkosmos integriert hat.
In New York hat Cohen über die Jahre zu seinem unverkennbaren Ton gefunden und eine Vielzahl von Alben eingespielt, darunter nicht nur ein Dutzend unter eigenem Namen, mit Formationen wie »Triveni« und »Third World Love«, sondern auch als Teil der »3 Cohens« mit seinen Geschwistern Anat (Klarinette) und Yuval (Saxofon).
Kurioserweise ist Cohens aktuelles Album Into the Silence weder in Tel Aviv noch New York, sondern in einem Tonstudio in Südfrankreich aufgenommen worden, was nicht zuletzt mit der Zusammensetzung der Band aus amerikanischen und europäischen Musikern zu tun hat. Neben dem Saxofonisten Bill McHenry spielen Jazzer, die von vorherigen Sessions bereits bestens aufeinander abgestimmt waren: der Pianist Yonathan Avishai, der Bassist Eric Revis und der Schlagzeuger Nasheet Waits.
stimmung Dieses Eingespieltsein war schon deshalb notwendig, weil die Kompositionen gewissermaßen erst druckfrisch im Studio eintrafen. »Das Album entstand in einer Zeit meines Lebens, als ich gerade meinen Vater verloren hatte. Nach seinem Tod fing ich an, diese Musik zu komponieren, und jedes Mal, wenn ich am Klavier saß, stellte sich eine bestimmte Stimmung ein. Das Album sollte diese Zeit der Trauer reflektieren.«
Entstanden sind die sechs Stücke zwischen Dezember 2014 und Juli 2015, »manche Kompositionen eine halbe Stunde vor den Aufnahmen im Studio«, wie Cohen sagt. Weder die Musiker noch er hatten also Zeit, die einzelnen Lieder einzustudieren. Das Resultat ist ebenso überraschend wie großartig: Die Musiker spielen zurückgenommen, reagieren intuitiv aufeinander und fokussieren sich diszipliniert auf das gemeinsame Klangbild.
In einer solchen Verinnerlichung war Avishai Cohen bislang noch nicht zu hören. »Die Musik auf dem neuen Album war auch für mich neu«, sagt Cohen. »Obwohl ich wusste, wie die Kompositionen klingen sollten, blieb viel Spielraum für Interpretationen.« Und diesen Spielraum kostet der Israeli inzwischen voll aus.«
Avishai Cohen: »Into The Silence«. ECM Records, Universal Music 2016