Andrew gehört nicht unbedingt zu jenen Romanhelden, mit denen man von Anfang an bedingungslos mitfiebert, geschweige denn sympathisiert. Er ist ein Unglücksrabe, ein Tollpatsch, ein Pechvogel, auf gewisse Weise sogar eine Art verzerrter Hiob. Diese Parallele drängt sich fast unweigerlich auf – verliert Andrew doch kurz hintereinander zwei Ehefrauen und zwei Kinder. Den Tod seiner ersten Tochter hat er ungewollt mitverschuldet; für sein zweites Kind zu sorgen, sieht er sich nach dem Tod seiner Frau Briony außerstande. Ob die Dramen seines Lebens dem Schicksal oder dem Zufall entsprungen sind, ob Andrew einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort das Falsche tut oder ob er schlicht zu sehr um sich selbst kreist, bleibt offen.
Umso erstaunlicher ist es, dass E. L. Doctorow es dennoch schafft, fast unbemerkt und klammheimlich, möchte man meinen, den Leser hineinzuziehen in Andrews Kopf. Hier findet er ein vibrierendes Netz aus Spiegelneuronen, Synapsen und Gehirnwindungen. Denn Andrew ist Kognitionswissenschaftler mit einer »angeborenen Fähigkeit zum Unglücklichsein«. Das erklärt vieles: Andrew ist weder bösartig noch gewalttätig – er ist nun einmal sehr mit sich, seinem Hirn und dessen Erkenntnistheorien beschäftigt. So sehr, dass er die Menschen um sich herum dabei mitunter vergisst und seine Gefühle und die anderer für zweitrangig hält.
freier wille Wie Doctorow behende zwischen dem Ich-Erzähler und Andrew hin- und herspringt, der von sich selbst bisweilen in der dritten Person spricht, ist große Erzählkunst. So wird das Spiel mit den Perspektiven auch zur Metapher auf das Geschichtenerzählen selbst. Denn die Fragen, die den Neurowissenschaftler unablässig beschäftigen, machen auch dem Erzähler zu schaffen. Bestimmen wir unser Geschick selbst, durch freien Willen, oder ist alles nur Schicksal? Warum etwa musste Briony, Andrews große Liebe, ausgerechnet am 11. September an der Südspitze Manhattans joggen gehen? Sind wir mit anderen Menschen aufgrund unseres genetischen Codes und eines Bewusstseins außerhalb unserer selbst verbunden? Erinnern wir uns womöglich an kollektive Erfahrungen, die wir selbst gar nicht gemacht haben?
Aus Andrews Monolog, seiner Reise ins Ich, entfaltet der Autor ein Puzzle, das er Teilchen für Teilchen zusammensetzt. Am Ende offenbart sich, gewissermaßen im Rückwärtsgang, ein größeres Bild. Es gibt den Blick frei auf Identität und Bewusstsein, auf die Geschichte und das Geschichtenerzählen selbst.
So erfahren wir etwa, dass Andrew eine Zeit lang den »Sidekick des amerikanischen Präsidenten« mimt – wie sich herausstellt, sind beide Männer alte Studienfreunde. Es ist eine Rolle, durch die er letztlich zu sich selbst findet – sah er sich selbst früher als Täuscher, sind es nun die anderen, die sich und die Welt täuschen. Er sieht sich als Narr, der endlich bei sich angekommen ist.
Schaltzentralen Man muss sich schon sehr frei fühlen, wenn man, wie Doctorow, dabei mit Nähe und Distanz spielt, Identität spiegelt, Grenzen zwischen Wissenschaft und Science-Fiction verwischt, aufhebt und gleich wieder errichtet, mal ironisch-spielerisch, mal todernst, und den Leser geschickt zugleich durch die Schaltzentralen des Gehirns und des Oval Office der Weltpolitik geleitet. In Doctorows Spätwerk klingen immer wieder, das wird an dieser Stelle der Story besonders deutlich, nicht nur Anspielungen auf amerikanische Geschichte an, sondern auch Zitate aus seinen früheren Panorama-Romanen wie Ragtime und Billy Bathgate.
Und dann ist da noch der Psychiater. Oder ist es Andrew selbst, im Zwiegespräch mit seinem Alter Ego? Ist Andrews Monolog gar ein Hirngespinst des Psychiaters? Vielleicht ist Andrew ja auch »der erste mit einem Bewusstsein ausgestattete Computer«. Alles scheint möglich in Doctorows letztem Roman. Die Antwort des im Juli verstorbenen Romanciers liest sich wie sein Vermächtnis: »Geschichten sind die Erlösung.« Neben der Liebe natürlich.
E. L. Doctorow: »In Andrews Kopf«. Roman. Deutsch von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 208 S., 18,99 €