»Tag der Vergeltung«

Hiob in Tel Aviv

Wir kennen die Geschichten von Menschen, denen das Leben entgleitet. Die einen lassen sich eine Kleinigkeit zuschulden kommen, und um den ersten Fehler zu kaschieren, begehen sie weitere. Andere lassen sich auf immer mehr und immer faulere Kompromisse ein, bis sie für sich selbst nur noch Verachtung übrig haben. Liad Shohams Krimi Tag der Vergeltung erzählt von zwei abgerutschten Männern, die ziemlich verzweifelt darum kämpfen, ihr verlorenes Leben wiederzugewinnen. Der eine versucht, against all odds, auf den rechten Pfad zurückzukehren, der andere stemmt sich gegen einen in Schieflage geratenen Justizapparat.

sündenbock Im Norden Tel Avivs wird eine junge Frau vergewaltigt. Während ihr von den Nachbarn keiner zu Hilfe kommt und hinterher auch nichts gesehen haben will (»Hier galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sich rauszuhalten«), nimmt der Vater des nach der Tat gelähmten Opfers die Dinge selbst in die Hand. Alsbald macht er Ziv Nevo als Verdächtigen aus, auf den sich vom Staatsanwalt bis zur Lokalzeitung alle als Täter einigen können.

Der Mann hat kein Alibi, keine Nerven und keine einflussreichen Freunde, höchstens die falschen. Nevo ist ein eigentlich ein guter Kerl, vielleicht ein bisschen charakterschwach und absolut nicht in der Lage, sich selbst zu schützen. Job, Haus, Frau und Kind sind ihm abhanden gekommen, und jetzt verschwört sich gegen ihn vielleicht nicht die ganze Welt, aber doch das Establishment.

Der ermittelnde Kommissar will mit einem schnellen Erfolg zeigen, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört, die Staatsanwältin möchte ihre Behörde aus der politischen Schusslinie holen, und der junge Lokalreporter, der nach der letzten Sparrunde gleich zwei Ressorts – Verbrechen und Bildung – bedienen muss, bemüht sich nach Kräften, fieser zu werden und Skrupel abzulegen.

entscheidungszwang In Israel ist der Autor und Anwalt Liad Shoham mit seinen sehr überlegten Justizthrillern bereits mehrmals auf den Bestseller-Listen gelandet. Tag der Vergeltung ist der erste seiner Romane, der ins Deutsche übersetzt wurde. Shoham erzählt seine Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven, aber konsequent mit Empathie: Wir erleben den Kommissar unter Erfolgsdruck, die Staatsanwältin unter Entscheidungszwang und den armen Tropf Ziv Nevo, der von seinen falschen Mafia-Freunden, der Polizei und seiner Ex-Frau gleichermaßen in die Zange genommen wird.

Dabei setzt Shoham Suspense und Gewalt so gering dosiert ein, als könne er kein Blut sehen, und erweist sich als eine Art literarischer Schwiegersohn von Batya Gur oder Shulamith Lapid. Aber auch wenn Shoham seinen Figuren ruhig etwas mehr innere Dynamik hätte geben und seinen Roman weniger parabelhaft anlegen können, so ist seine moralische Geschichte doch klug konstruiert: Unrecht wird von einer Gesellschaft unter permanentem Druck erzeugt, wenn jeder aus einer Situation den persönlichen Vorteil schlagen will, wenn Verantwortung nach oben delegiert wird und Schuld nach unten.

So wird zum eigentlichen Helden der Geschichte der ausrangierte und beschämte Kommissar Eli Nachum, der am Ende von seiner kriminellen Praxis abrückt, Geständnisse zu erzwingen und Opfer zu Falschaussagen zu nötigen. Nicht die Fehler, die Menschen machen, sind nach Liad Shohams Geschichte das Problem, sondern die Unfähigkeit, sie einzugestehen. Und die zynisch gewordenen Chefs, die einem das geschickt beibringen und Skrupel mit den Worten ausreden: »Leg dir eine raue Schale zu, Junge!«

Liad Shoham: »Tag der Vergeltung«. Übersetzt von Ulrike Harnisch. Dumont, Köln 2013, 350 S., 18,99 €

Aufgegabelt

Mazze-Sandwich-Eis

Rezepte und Leckeres

 18.04.2025

Pro & Contra

Ist ein Handyverbot der richtige Weg?

Tel Aviv verbannt Smartphones aus den Grundschulen. Eine gute Entscheidung? Zwei Meinungen zur Debatte

von Sabine Brandes, Sima Purits  18.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  18.04.2025

Kulturkolumne

Als Maulwurf gegen die Rechthaberitis

Von meinen Pessach-Oster-Vorsätzen

von Maria Ossowski  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Ausstellung

Das pralle prosaische Leben

Wie Moishe Shagal aus Ljosna bei Witebsk zur Weltmarke Marc Chagall wurde. In Düsseldorf ist das grandiose Frühwerk des Jahrhundertkünstlers zu sehen

von Eugen El  17.04.2025

Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Zum Gedenken an die Befreiung des Lagers Sachsenhausen werden noch sechs Überlebende erwartet. Was das für die Erinnerungsarbeit der Zukunft bedeutet

 17.04.2025

Bericht zur Pressefreiheit

Jüdischer Journalisten-Verband kritisiert Reporter ohne Grenzen

Die Reporter ohne Grenzen hatten einen verengten Meinungskorridor bei der Nahost-Berichterstattung in Deutschland beklagt. Daran gibt es nun scharfe Kritik

 17.04.2025

Interview

»Die ganze Bandbreite«

Programmdirektorin Lea Wohl von Haselberg über das Jüdische Filmfestival Berlin Brandenburg und israelisches Kino nach dem 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  16.04.2025