Als Liorah Federmann sich Ende der 90er-Jahre an den Nachlass ihres Vaters Chaim Heinz Fenchel heranwagt und die Schubladen seines Schreibtisches in Haifa öffnet, rund zehn Jahre nach seinem Tod, flattern ihr Notizhefte und Adressbücher entgegen.
Dazwischen liegen Stapel farbenfroher Aquarelle, Skizzen und Entwürfe, die sie bis dahin noch nie gesehen hatte. »Salon Direktor«, »Büro Hutsalon«, »Bahnhofsszene« oder »Gang Varieté« lauten die Titel der Zeichnungen. Sie zeigen Filmszenen, darunter zu den Krimis Der Zinker und Der Hexer von Edgar Wallace. Vor seiner Emigration nach Palästina 1937 gehörte Fenchel zu Berlins meistbeschäftigten Filmarchitekten. Mehr als 45 Komödien, Krimis und Actionfilme der Weimarer Republik tragen seine Handschrift.
Vergangenheit Liorah Federmann zeigt das Archiv ihrer Freundin Carmela Rubin, Leiterin des Tel Aviver Rubin-Museums. »Israelis unserer Generation tun sich schwer mit der Vergangenheit«, sagt die Museumschefin. »Wir wurden dazu erzogen, nach vorne zu blicken und den zionistischen Traum zu leben – die Vergangenheit unserer Eltern war lange tabu.«
Doch diesmal ist es anders. Rubin ahnt, dass sie auf einen wahren Schatz gestoßen ist. Sie zieht Kollegen zu Rate, darunter den Kulturwissenschaftler Joachim Schlör. Er hatte bereits 1998 einen Aufsatz über Fenchel in der Zeitschrift »Filmexil« veröffentlicht, den bis dahin einzigen. Schlör erkennt die Dimension des Fundes – ein Puzzlestück deutsch-jüdischer Kulturgeschichte, mit verschiedenen Facetten und viel Potenzial. Denn Fenchels Archiv ist nahezu lückenlos.
»Es ist einmalig, aus einem einzigen Archiv ein ganzes Künstlerleben so detailgetreu zu rekonstruieren«, schwärmt Chana Schütz vom Centrum Judaicum Berlin. »Das passiert einem Kurator nicht alle Tage«, freut sich die Kunsthistorikerin, die die Puzzlestücke aus Fenchels »verschwundener Biografie« in einer außergewöhnlichen Ausstellung zusammengesetzt hat, die nun im Centrum Judaicum zu sehen ist. Nach einer ersten Werkschau 2012 im Rubin Museum Tel Aviv, dort allerdings mit Akzent auf der Zeit in Israel, wollte die stellvertretende Leiterin des Centrum Judaicum Fenchels Werk zurück nach Berlin holen.
Kaffeehäuser Der Ausstellungstitel abgedreht! ist bewusst doppeldeutig gewählt. Er steht für zwei Facetten einer Emigrationsgeschichte, die in den 30er-Jahren viele deutsche Juden teilen mussten: Erst der berufliche Erfolg, dann, mit der Machtergreifung der Nazis, der Bruch: Seit 1933 durfte der Filmset-Designer in Deutschland nicht mehr arbeiten. Im Gegensatz zu vielen seiner Filmkollegen entscheidet er sich 1937 jedoch nicht für Hollywood, sondern besteigt ein Schiff in Richtung Haifa.
Als er dort an Land geht, wagt er einen Neuanfang. Er tauscht die vertrauten Bühnenwelten der Filmkulissen gegen die rauen Lebenswelten der neuen Heimat: Seine Erfahrungen und seine zeichnerische Begabung nutzt er nun, um Kaffeehäuser und elegante Ladengeschäfte für die aufstrebende Metropole Tel Aviv zu bauen. »Vergleicht man seine Skizzen mit den Filmentwürfen, stellt man fest: Es ist das Gleiche«, erklärt Chana Schütz.
Fenchel gehörte zu den Architekten, die Tel Aviv sein Gesicht gaben. »Er wollte einfach arbeiten«, beschreibt Liorah Federmann den Universalismus ihres Vaters. »Eben noch schuf er Filmsets in den UFA-Studios, wenig später das Hotel Dan und das Café Pilz in Tel Aviv – er konnte nicht anders, denn er wollte sich in seinem neuen Zuhause mit vertrauten Dingen umgeben, also baute er sie selbst«, erzählt die Tochter, die samt Familie eigens zur Ausstellungseröffnung nach Berlin gereist ist.
zugänge Die Ausstellung selbst wirkt wie eine filmische Inszenierung. Hier die Berliner Jahre, die wie ein Filmstudio anmuten – ineinander verschachtelte Räume, Vitrinen mit Schwarz-Weiß-Fotos, schwere Stoffbahnen, auf die eine Videoinstallation Fenchels Skizzen und Filmszenen projiziert; nebenan ein lichtdurchfluteter Raum, elegante Cafés, großzügige Villen in sandfarbener Umgebung: die Ankunft im Gelobten Land.
Das Faszinierende an Fenchel seien die »verschiedenen Zugänge«, sagt Anja Siegemund, Direktorin des Centrum Judaicum: Fenchel, der Künstler; Fenchel, der Zeichner; Fenchel, der Filmset-Designer; Fenchel, der Architekt. »Fenchel steht für das innovative, sich neu erfindende Berlin in den Goldenen Zwanzigern«, sagt Siegemund. Auf den ersten Blick ist es eine Erfolgsgeschichte. »Doch dazwischen sieht, wie bei allen Migrationsgeschichten, vieles anders aus.«
So vermittelt die Ausstellungsaufteilung in Dunkel und Hell auch Fenchels eigene Ängste sowie seine Erleichterung, dem tödlichen Antisemitismus entkommen zu sein. »Es ist wohl das Schönste und Beste hier im Lande; ein Judenproblem wie in Europa gibt es nicht!«, schreibt er 1937. Berlin habe Chaim Heinz Fenchel verloren, »durch Berufsverbot und NS-Terror, den es zu verantworten hatte«, sagt Kulturstaatssekretär Tim Renner am Rande der Ausstellung. Fenchel selbst hat seine Heimatstadt nie wieder betreten. Doch seine Werke sind nun nach Berlin zurückgekehrt.
»abgedreht! Bühnenwelten – Lebenswelten. Chaim Heinz Fenchel 1906–1988«. Centrum Judaicum Berlin, bis 10. April 2016