Wer sich mit der Geschichte, Kultur und Gegenwart des Nahen und Mittleren Ostens beschäftigen will, findet dazu in den deutschen Orient-Instituten in Beirut und Istanbul exzellente Bibliotheken und Forschungsbedingungen vor – nur in Israel wird es etwas schwierig: Während beispielsweise Franzosen, Briten oder sogar die Mormonen ein eigenes Forschungsinstitut zur israelisch-palästinensischen Gegenwart in Jerusalem betreiben, schweift der Blick der vielen mit deutschen Steuergeldern finanzierten Einrichtungen in Israel weiterhin eher unter die Erde (Archäologie), in den Himmel (Theologie) oder über das Mittelmeer (jüdisch-diasporische Geschichte).
Allzu selten richtet sich dieser auf die lebendigen Kulturen sowie die aktuellen Konflikte zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan; die israelische Gesellschaft wird weiterhin als ein herausgerissenes Stück des alten Mitteleuropa betrachtet. Oder, wie es der Historiker Dan Diner auf den Punkt bringt: »... wenn schon nicht in Europa, so doch von Europa«.
Folgt man der deutschen Forschungsförderung in Israel, dann könnte der Eindruck entstehen, der jüdische Staat sei identisch mit dem utopischen Roman Altneuland von Theodor Herzl. Dieser hatte sich das zionistische Projekt als unmittelbare Fortsetzung des jüdischen Wien vorgestellt, wo man Deutsch spricht – und wer in die Oper gehen will, kauft sich zuvor weiße Handschuhe.
Opernhaus Aber dieser Blick auf Israel als quasi-europäische Enklave verkennt nicht nur das Wesen der israelischen Gesellschaft, sondern auch ihrer Nachbarn. Um es am Beispiel der Oper zu verdeutlichen: Selbstverständlich wurde im britischen Mandatsgebiet Palästina noch vor der israelischen Staatsgründung ein Opern-Ensemble in Tel Aviv aufgebaut – aber dessen Premiere im Jahr 1923 erfolgte ganze 54 Jahre nach der Eröffnung des Opernhauses von Kairo.
Heute ist der Hauptsitz der israelischen Oper das Tel Aviver Zentrum für Darstellende Künste. Aber das einst so futuristische Bauwerk aus dem Jahr 1994 wirkt neben dem monumentalen Opernhaus in Dubai von 2016 mittlerweile reichlich angestaubt. Und genau wie sich vermeintlich »westliche« Musikkultur in der arabischen Welt finden lässt, so ist auch die angeblich »östliche« Musik im Staat Israel zu Hause. Das typisch europäische Repertoire des Tel Aviver Symphonieorchesters findet sein Gegenstück in der orientalischen Klassik des Andalusischen Symphonieorchesters in Jerusalem.
Für das Forschungsfeld der Israelstudien erschließen sich aus dieser Debatte über die kulturelle Verortung der israelischen Gesellschaft zwei unterschiedliche Zugänge, die sich gegenseitig ergänzen: als Zweig der jüdischen Geschichte, wie dies am Zentrum für Israel-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München der Fall ist – das heißt, das Nachdenken über die Kontinuitäten und Brüche zwischen jüdisch-diasporischem und jüdisch-nationalstaatlichem Leben. Oder aber sie sind Bestandteil der Nahoststudien, wie an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Das bedingt die Reflexion über die Strategien einer Zugehörigkeit oder Abgrenzung Israels im Kontext der Region.
Das Fach Israelstudien ist nicht nur in der Forschungslandschaft in Deutschland recht uneinheitlich verortet. An manchen Universitäten in der angelsächsischen Welt wird ein eigener Abschluss angeboten, der bisweilen mit dem in Palästinastudien konkurriert, so beispielsweise an der School of Oriental and African Studies in London. An anderen Standorten wie in Princeton dagegen sind die Israelstudien fest in die Nahoststudien eingebunden.
Thinktank Auch in Deutschland gibt es Hoffnungszeichen, dass die nahöstliche Politik der (Selbst-)Abgrenzung nicht in den wissenschaftlichen Raum übertragen wird. Das neuartige und hochaktive Israel-Forschungsprojekt der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), des Thinktanks, der die Bundesregierung zu außenpolitischen Fragen berät, ist fester Bestandteil der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika. Und der Bachelor in Nahoststudien an der Universität Halle integriert selbstverständlich sowohl die hebräische als auch die arabische Sprachausbildung.
In Heidelberg arbeitet die Hochschule für Jüdische Studien ebenfalls an einer engeren Kooperation mit der Ruprecht-Karls-Universität, um in Zukunft Studierenden die Chance geben zu können, ihre Hebräischkompetenzen mit dem Arabischen, Türkischen oder Persischen zu kombinieren und dabei einen Schwerpunkt auf den Kontakt und den Vergleich zwischen jüdischen wie muslimischen Kulturen im Vorderen Orient zu setzen.
Im Rahmen von Nahoststudien beinhaltet das Fach aber auch immer die notwendige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen nationalgeschichtlichen Gründungsmythen. Das bezieht sich sowohl auf die israelische Enklaven-Fantasie vom Selbstbild einer »Villa im Dschungel« als auch die exkludierenden arabischen Narrative einer »Welt des Islam«, in der Juden nicht vorkommen. Dabei waren und sind sie ebenso selbstverständlicher Teil der Region des Vorderen Orients wie auch die nichtarabischen Türken, Perser, Berber und Kurden oder Nichtmuslime wie Kopten, Maroniten, Mandäer und Jesiden. Das Projekt eines jüdischen Nationalstaats ist nicht mehr und nicht weniger legitim als die Idee eines kurdischen Nationalstaats.
Selbstbestimmung Als Teil der Nahoststudien hinterfragt die Disziplin zugleich jüdische wie arabische Exklusiv-ansprüche auf das Land Israel/Palästina. Sowohl Juden als auch palästinensische Araber haben indigene Rechte auf nationale Selbstbestimmung und werden auf lange Sicht einen Ausgleich finden müssen. Niemand hat das Recht, den Staat Israel abzuschaffen, nur weil er aus Haifa vertrieben wurde – und niemand hat das Recht, einen palästinensischen Staat zu verhindern, nur weil er aus Hebron, Odessa oder Kiel fliehen musste.
Das zähe Ringen um das Heilige Land sollte dabei nicht als Projektionsfläche für deutsche Identitätspolitik missbraucht werden, insbesondere für die Vorstellung, hier werde ein Kampf zwischen Orient und Okzident ausgefochten. Für beide Nationalbewegungen, jüdisch wie arabisch, war Europa Feind und Vorbild zugleich.
Die zionistische Wiederbesiedlung des Landes wurde nur möglich durch die britische Balfour-Erklärung – aber auch die meisten arabischen Staaten hatten einen britischen Geburtshelfer; selbst die Fahne der arabischen Revolte von 1916 wurde von dem britischen Diplomaten Mark Sykes entworfen, bekannt als einer der Architekten des Sykes-Picot-Abkommens.
Wer also den Staat Israel verstehen will, muss sich mit der gesamten Region beschäftigen – und wer sich mit dem Nahen und Mittleren Osten beschäftigt, dem kann die Auseinandersetzung mit dem zionistischen Projekt ans Herz gelegt werden.
Der Autor ist Juniorprofessor für Israel- und Nahoststudien.