Herr Tenenbom, Sie waren für Ihr neues Buch ein Jahr in Mea Shearim, dem ultraorthodoxen Viertel von Jerusalem. Auch am 7. Oktober. Wie haben Sie den »Schwarzen Schabbat« und damit den Beginn des Krieges erlebt?
Es war Simchat Tora, der fröhlichste Tag des jüdischen Kalenders. Um 6.30 Uhr morgens ertönten die Sirenen. Ich ging hinaus auf die Straße, wie alle anderen. Man hörte Raketen, Einschläge des »Iron Dome«. Charedim können an diesem Tag kein Radio, kein Telefon und keine anderen Kommunikationsmittel nutzen. Sie sahen mich an und fragten: Was ist los? Ich ging zurück ins Hotel, nahm mein iPhone. Ich kontaktierte eine Kollegin, eine Journalistin in Tel Aviv. Sie schickte mir einen Videoclip. Dann schaute ich auf »Al Jazeera Arabic«. Dort zeigten sie schon verschiedene Videos der Hamas. Ich checkte auch Telegram, und dort waren ebenfalls erschreckende Clips zu sehen, wie die Terroristen tote Juden schändeten, leblose Frauen auf Toyota-Pick-ups luden, kleine Kinder als Geiseln nahmen. In dem Moment kann man nicht glauben, was man sieht.
Wie haben die Menschen in Mea Shearim reagiert?
Ich ging hinaus und erzählte den Leuten, was ich gesehen hatte. Ich beschrieb ihnen einige der Videos. Sie waren schockiert. Die erste Reaktion war: »Dass sie uns das antun, was sie unseren Großeltern in Berlin und in Warschau angetan haben.« Ich selbst war erst ein paar Wochen zuvor in Moldawien gewesen. Meine Mutter wurde in Moldawien geboren. Dort hörte ich zum ersten Mal von dem Ausmaß des Mordens, der Misshandlung und der Grausamkeit des Tötens, als die Körper meiner eigenen Familie verstümmelt wurden. In Israel sei nun das Gleiche geschehen, sagten sie. Ich meine, der Vergleich war absolut zutreffend. Als der Feiertag vorbei war, waren sie mit Lautsprechern auf Autos und Motorrädern unterwegs und riefen die Menschen zum Gebet für die Rettung der Nation Israel auf.
Der Nation Israel?
Ja, der ganze Antizionismus verschwand irgendwie in diesem Moment.
Wie hat sich die Atmosphäre sonst noch verändert?
Wissen Sie, ich habe Israel noch nie so verzweifelt, so schockiert, so schutzlos gesehen, wie es nach dem 7. Oktober der Fall war.
Sie wurden in Bnei Brak geboren und sind in der charedischen Gemeinschaft aufgewachsen. Haben Sie während Ihrer Zeit in Mea Shearim neue Erkenntnisse gewonnen?
Ja, ich stamme aus einer charedischen Familie, bin Urenkel des Radzyner Rebben. Ich war in Mea Shearim und Bnei Brak als kleines Kind oder sehr junger Mann. Die Perspektive dessen, was ich wusste und erlebte, war anders. Und jetzt, als reifer Mensch, ist es völlig anders, weil man mehr versteht, mehr Lebenserfahrung hat. Gleichzeitig, so denke ich, hat sich die Gemeinschaft verändert. Wäre zu der Zeit, als ich in der Jeschiwa war, jemand gekommen, der so aussieht und sich so kleidet, wie ich es heute tue, hätte man ihn schon am ersten Tag mit den Worten hinausbegleitet: »Das ist nicht Ihr Platz.« Und jetzt kam ich in die Ponoviczer Jeschiwa, setzte mich hin und sprach mit den Leuten. Es kamen immer mehr dazu. Wir redeten sehr lange. Als ich ging, gab es ungefähr 40 junge Menschen, die mich begleiteten, so, als ob ich ein Rabbi wäre. Es war bizarr. Dazu wäre es zu meiner Zeit nicht gekommen. In Mea Shearim begrüßten sie mich: »Reb Tuvia, Schalom Aleichem, es ist so schön, dich zu sehen!« Sie kamen zu mir, sagten mir, dass sie meine Bücher lieben. Sie zitierten daraus.
Wie erklären Sie sich, dass es in letzter Zeit – nicht erst nach der Fernsehserie »Shtisel« – ein so großes Interesse an der ultraorthodoxen Gemeinschaft gibt?
Sie wissen doch: »Jews is News.« Sie lesen über schlechte Juden in der »Zeit«, im »Spiegel«, in der »New York Times« oder in der britischen »Times«. Und immer in einer Weise, die in keinem Verhältnis zur Zahl der Juden in der Welt oder zur Größe Israels steht, das wirklich ein kleines Land ist. Es ist so, die Menschen interessieren sich immer für Juden – das ist die Faszination. Meistens ist es negativ konnotiert, aber man liebt die Juden sehr. Ich meine, die Leute lieben Juden nicht, sie lieben es, über Juden zu lesen, meist im negativen Sinn. Und dann gibt es die Charedim und die Art, wie sie gekleidet sind. Für viele Menschen sind das die echten Juden. Das ist Unsinn. Als ob Juden zur Zeit von Moses, zu biblischen Zeiten, einen Strejml getragen hätten. Das ist es, was die Leute denken. Das ist die eine Sache. Die andere ist, dass die meisten nicht einmal dort hineingehen können oder Angst haben hineinzugehen oder was auch immer. Es ist wie eine Geheimgesellschaft, die Geheimgesellschaft der Juden.
In Israel leben mehr als eine Million charedische Juden. Wie erklären Sie sich, dass so viele nicht-charedische Israelis so wenig über ihre Nachbarn wissen, sie sogar als Bedrohung sehen?
So wie es Antisemitismus gegen Juden gibt, und zwar von Nichtjuden, so gibt es auch eine Form von Antisemitismus gegen die charedische Gemeinschaft, wie auch immer man es nennen mag. Die Mehrheit der Gesellschaft weiß nichts über sie. Nichts, null. Das ist erschreckend. Ich erinnere mich, als ich in Israel einen der bekanntesten Journalisten traf, dessen Namen ich hier nicht nennen will. Er sagte: »Tuvia, ich habe gehört, dass du ein Buch über Charedim schreibst.« Ich sagte Ja. Und er sagte zu mir: »Ich auch.« Also fragte ich: »Nu, wie gehtʼs?« Der Kerl schaute mich verständnislos an, er kann nicht einmal Jiddisch!
Sie sprechen Jiddisch, wo ein Nein manchmal ein Ja bedeutet, wie Sie schreiben. Es geht dabei immer um feine Nuancen. Kann man ohne dieses Wissen keinen Einblick in die Gemeinschaft bekommen?
Es kann keinen Einblick geben ohne die Sprache. Es ist so, wie im Fall von ausländischen Journalisten, die nach Israel kommen und über den Konflikt schreiben wollen. Sie können kein einziges Wort auf Arabisch, kein einziges Wort auf Hebräisch. Sie gehen nach Ramallah oder nach Gaza, treffen dann irgendwo einen Aktivisten, irgendjemanden. So erfahren sie, was die Aktivisten sagen – aber nicht, was die Leute denken. Wie kann man über Menschen schreiben, ohne ihre Sprache zu kennen? Man kann einen Artikel schreiben, der einen ersten Eindruck von der Kultur vermittelt, aber nicht mehr. So ist es auch in der charedischen Welt: Wie kannst du über sie schreiben, ohne die Sitten und Gebräuche zu kennen und zu wissen, woher sie kommen? Das ist so wichtig. Einmal fragte ich: »Wie kommt es, dass du mich rundum akzeptierst?« Und der Charedi sagte zu mir: »Wenn du mit uns auf Jiddisch sprichst, dann bist nicht du es, der mit uns spricht. Es ist dein Großvater, der mit unserem Großvater spricht, verstehst du?« Das ist Emes, die Wahrheit.
Erklärt das auch die vielen Vorurteile, die es über die charedische Gemeinschaft gibt?
Es ist das Gleiche, wenn heute Zehntausende oder Hunderttausende in London, New York oder wo auch immer »From the River to the Sea, Palestine will be free« rufen. Fragen Sie sie: welcher Fluss, welches Meer?, dann haben sie keine Ahnung. So ist es mit Antisemitismus. Die Welt hasst die Juden, gibt ihnen für alles die Schuld, ohne etwas über die Juden zu wissen. Sie haben vielleicht noch nie einen Juden im wirklichen Leben gesehen. Und es ist das Gleiche mit den Chilonim, den Säkularen. Sie kennen die Charedim nicht. Sie wissen nichts über sie. Viele haben noch nie mit Charedim gesprochen. Aber sie wissen, wie gefährlich sie sind. Das ist lächerlich.
Sie schreiben, dass Sie noch nie als Journalist so positiv über Menschen gedacht haben, noch nie »alle so schön und attraktiv« gefunden haben. Sie begannen, an sich selbst zu zweifeln. Wie kam es dazu?
Als ich den Auftrag bekam, das Buch zu schreiben, sagten mir viele, dass ich nicht nach Mea Shearim gehen und dort leben sollte. Sie würden mich gleich am ersten Tag hinauswerfen. Aber ich sagte, das sei mein Job. Ich bin Journalist, und das ist es, was ich tun werde. Ich fahre dorthin, um zu schreiben. Und wenn das ihre Reaktion ist, dann werde ich das aufschreiben.
Man hat Sie also vor den Bewohnern Mea Shearims gewarnt?
Ja, und vor diesem Hintergrund nahm ich an, dass sich das Buch gegen die Charedim richten würde. Am Ende habe ich so positiv geschrieben, dass sogar die Charedim in Jerusalem sagten: »Schkoyach, Reb Tuvia!« Das hatte ich nicht erwartet. Aber so war es. Ich glaube, dass man sich als Journalist an seine Erkenntnisse halten muss. Ich habe eine wirklich sehr herzliche Gemeinschaft erlebt. Sie helfen den Schwachen. Sie helfen den Armen. Es gibt einige Kritikpunkte, darüber habe ich auch geschrieben. Es ist kein Propagandabuch. Aber am Ende des Tages liebten sie das Buch.
Sie sind jetzt nach New York zurückgekehrt. Doch Sie schreiben, dass Sie sich in Mea Shearim mehr zu Hause gefühlt haben, als es jemals in New York der Fall war. Wie ist das zu erklären?
Man kann 20 Jahre in New York leben und kennt seinen Nachbarn nicht. Man sagt höchstens einmal »Hallo«, »Guten Morgen«. Vielleicht. Und dann geht man nach Mea Shearim. Ich kannte niemanden. Aber nach einem Monat kennt dich jeder auf der Straße: »Reb Tuvia! A giten Schabbes!« Es ist, ganz, ganz anders. Völlig anders.
Sie schreiben: »Obwohl ich mich endgültig verabschiede, werde ich euch immer in meinem Herzen behalten.« Sie lieben diese Menschen?
Ja.
Zum Schluss nochmals der Blick auf die aktuelle Situation: Wird dieser Krieg die charedische Gemeinschaft verändern?
Ich habe bereits erwähnt, wie ich dort willkommen geheißen wurde, dass so viele Menschen in Mea Shearim mit mir über meine Bücher sprachen. Sie haben meine Bücher gelesen. Das ist nicht mehr die charedische Welt, die ich kannte. Und so überrascht es mich auch nicht, dass sich immer mehr Charedim zur Armee melden. Das sind auch in diesem Krieg Zeichen dafür, wie sich die charedische und die israelische Welt einander annähern. Das ist das, was ich auch in meinem Buch berichte. Ich habe es erlebt, und ich denke, es ist wunderschön.
Trotz aller Gebote und Gesetze der charedischen Welt?
Wenn ich an die Entwicklung in der Upper East Side New Yorks oder in der schönen Nachbarschaft von Hamburg denke, wo man sich progressiv und liberal nennt, doch inzwischen sehr darauf achtet, dass man dies und das nicht mehr sagen oder tun darf, dann sind die Unterschiede nicht mehr so groß. Im Gegenteil. Ich kam von der Upper East Side nach Mea Shearim und fühlte mich frei. Hier kann ich atmen. Es ist so viel freier hier. Das ist eine Tatsache.
Mit dem Autor sprach Detlef David Kauschke.
Tuvia Tenenbom: »Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen«. Mit Fotos von Isi Tenenbom. Übersetzt von Michael Adrian. Suhrkamp, Berlin 2023, 575 S., 20 €
Am 29. November um 20 Uhr stellt der Autor im Gespräch mit Shelly Kupferberg das Buch in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz vor.
Am 7. Dezember um 19 Uhr hat der Dokumentarfilm »Gott spricht Jiddisch« im Babylon in Berlin, Rosa-Luxemburg-Straße 30, Weltpremiere