Interview

»Herzl wäre entsetzt«

Herr Bockenheimer, wenn Theodor Herzl heute nach Israel käme, würde ihm gefallen, was er vorfindet?
Er wäre entsetzt!

Weshalb?

Theodor Herzl schwebte damals ein »Österreich unter dem Olivenbaum« vor – ein Staat, in dem die Menschen höflich miteinander umgehen, sich gegenseitig mit ihrem akademischen Titel ansprechen und auch sonst viel Wert auf Regeln und gesellschaftliche Konventionen legen. In Israel hingegen hat man keine Zeit für Höflichkeiten, es ist ein warmes Land mit einer mediterranen, bisweilen ruppigen Kultur: Man diskutiert dort viel und gern miteinander. Es gäbe daher wohl nur wenige Aspekte, die seinen Vorstellungen vom Judenstaat entsprechen.

Welche denn?

Das Streben nach Wissen, zum Beispiel. Herzl war Zeit seines Lebens begeistert vom technischen Fortschritt und den Wissenschaften. Die Entwicklung Israels vom bitterarmen Agrarstaat zum Mekka der Wissenschaften würde ihn vielleicht sogar über die charakterlichen Defizite der Israelis hinwegtrösten.

Sie haben sich für Ihr Buch »Chuzpe, Anarchie und koschere Muslime« unter anderem mit dem Schriftsteller Amos Oz, dem Pornostar Jonathan Agassi und der Frauenrechtlerin Anat Hoffman getroffen. Welchen Gesprächspartner würden Sie Theodor Herzl empfehlen?
Er sollte sich mit Amos Oz unterhalten. Ein Zionist der alten Schule, ein tief überzeugter Humanist, vor allem aber ist er ein toller Geschichtenerzähler. Vielleicht könnte er Herzl sogar davon überzeugen, dass es in Israel gar nicht so schlimm ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

Welcher Ihrer Interview-Partner ist Ihnen am meisten im Gedächtnis geblieben?
Die Begegnung mit Rabbi Hirsch war aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen schien er einer der wenigen Menschen im Land, der Herzls Bücher tatsächlich gelesen hat. Andererseits hat ihn das nicht dazu gebracht, auch nur ein gutes Wort über ihn zu verlieren – im Gegenteil. Hirsch ist Antizionist, und als solcher fand er Herzl derart grässlich, dass er ihn am liebsten erschossen hätte. Es war nicht das schönste Treffen, es war das erschreckendste.

Mit knurrendem Magen beim ehemaligen Minister Yuval Steinitz zu sitzen, war also wesentlich erträglicher?

Das schlug zwar auf den Magen, war alles in allem aber vergleichsweise angenehm.

Sie haben Ihre Gesprächspartner immer mit Theodor Herzls Pamphlet »Der Judenstaat« konfrontiert. Aber wie sieht es mit dem durchschnittlichen Israeli aus – interessiert sich der für den Zionisten?

Kein bisschen. Das verhält sich so wie mit Konrad Adenauer in Deutschland. Man kennt den Namen Herzls zwar von Straßenschildern, das war es dann aber auch. Gerade die jungen Israelis fragen sich eher, ob es keine anderen Probleme gibt als Herzls Träume. Dabei ist sein Buch heute so aktuell wie nie: Denn mit der Gründung des Judenstaates ist ja, anders als es sich Herzl erhofft hatte, der Judenhass nicht verschwunden, sondern er hat sich nur als »Antizionismus« verkleidet.

Sie haben drei Jahre in Israel gelebt. Was hat Sie am Land fasziniert?

Die Geschichte des Staates ist großartiges Material für Autoren. Sie ist dramatisch wie ein Stück von William Shakespeare, rührend wie Erzählungen von Antoine de Saint-Exupéry und lustig wie Texte von Ephraim Kishon. Über die dramatischen Aspekte wurde schon genug geschrieben, ich wollte mich lieber den komischen Seiten der zionistischen Revolution widmen.

Mit dem Journalisten sprach Katrin Richter.

Johannes C. Bockenheimer: »Chuzpe, Anarchie und koschere Muslime. Meine Versuche, Israel zu verstehen«, Random House, München 2015, 208 S., 14,99 Euro

Malerei

First Ladys der Abstraktion

Das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden zeigt farbenfrohe Bilder jüdischer Künstlerinnen

von Dorothee Baer-Bogenschütz  14.01.2025

Leipzig

»War is over« im Capa-Haus

Das Capa-Haus war nach jahrzehntelangem Verfall durch eine bürgerschaftliche Initiative wiederentdeckt und saniert worden

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025

Krefeld

Gütliche Einigung über Campendonk-Gemälde

An der Einigung waren den Angaben nach die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), das Land NRW und die Kulturstiftung der Länder beteiligt

 13.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Mascha Kaléko

Großstadtdichterin mit sprühendem Witz

In den 20er-Jahren war Mascha Kaléko ein Star in Berlin. Die Nazis trieben sie ins Exil. Rund um ihren 50. Todestag erleben die Werke der jüdischen Dichterin eine Renaissance

von Christoph Arens  13.01.2025

Film

»Dude, wir sind Juden in einem Zug in Polen«

Bei den Oscar-Nominierungen darf man mit »A Real Pain« rechnen: Es handelt sich um eine Tragikomödie über das Erbe des Holocaust. Jesse Eisenberg und Kieran Culkin laufen zur Höchstform auf

von Lisa Forster  13.01.2025

Sehen!

»Shikun«

In Amos Gitais neuem Film bebt der geschichtsträchtige Beton zwischen gestern und heute

von Jens Balkenborg  12.01.2025

Omanut Zwillenberg-Förderpreis

Elianna Renner erhält Auszeichnung für jüdische Kunst

Die Schweizerin wird für ihre intensive Auseinandersetzung mit Geschichte, Biografie und Politik geehrt

 12.01.2025