Den Tagungsort hätte man, rein ästhetisch, nicht passender wählen können: einst eine neoromanische Kirche, wurden in dem zwölf Meter hohen Saal in Berlin-Charlottenburg jegliche Symbole entfernt, die Wände weiß verputzt wie unbeschriebenes Papier. Eine Projektionsfläche, so wie der Zionismus selbst, um den es hier drei Tage lang gehen soll. Der jüdische Staat – das ist der märchenhafte Nationaltraum Theodor Herzls, aber auch das sozialistische Ideal der Kibbuzniks, Wladimir Zeev Jabotinskys Selbstverteidigung oder Rabbiner Abraham Isaac Kooks erster Schritt zur Erlösung.
Nach dem 7. Oktober 2023 hat der Zionismus zudem so viele negative Projektionen von außen erfahren, »dass es uns absolut notwendig scheint, diesen Begriff zu wenden, zu verstehen und nachzuvollziehen, seine historischen Wurzeln aufzudecken«, leitet Doron Kiesel die Konferenz am Mittwoch vergangene Woche ein.
Vor dem wissenschaftlichen Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden sitzen die Menschen eng gedrängt auf ihren Stühlen. »Die Resonanz auf unsere Einladung war enorm«, sagt Kiesel. Der Begriff Zionismus polarisiert – und füllt den Saal bis auf den letzten Platz.
Die Konferenz komme genau zur richtigen Zeit, findet Hanna Veiler
Die Konferenz komme genau zur richtigen Zeit, findet Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). »Zionist« sei auf dem Campus zu einer der schlimmsten Beleidigungen verkommen, die genutzt werde, um sein Gegenüber als Faschisten, als Menschenhasser oder als Nazi zu diffamieren. Dagegen helfe nur die Rückbesinnung auf die Wissensvermittlung, »seit Jahrtausenden eine Form der jüdischen Selbstermächtigung«.
Ganz im Sinne der Selbstermächtigung beginnt der Tel Aviver Soziologe Natan Sznaider am ersten Abend der Konferenz zu erzählen: Eigentlich solle er zu den Vordenkern referieren, doch die zionistischen Theorien von früher, so seine These, habe die israelische Souveränität inzwischen überflüssig gemacht. Er selbst sei als junger Mann nach Israel ausgewandert, ohne eine Zeile Herzl, Achad Ha’am, Aharon David Gordon oder Moses Hess gelesen zu haben – und auch im jüdischen Staat selbst finde man diese Namen zwar auf Straßenschildern, aber nicht im Lehrplan: »Israel ist kein Produkt der zionistischen Theorie, sondern der zionistischen Praxis.«
»Israel ist kein Produkt der zionistischen Theorie, sondern der zionistischen Praxis«, sagte Natan Sznaider.
Dieser praktische Zionismus bedeute das Recht der Machtausübung des Staates, ganz nach Niccolò Machiavelli auch bis hin zur Gewalt. »Diese Verwirklichung jüdischer politischer Normalität ist für viele außerhalb Israels immer noch zutiefst anstößig«, stellt Sznaider fest. Die Ereignisse des 7. Oktober aber hätten die Souveränität des Staates auch in Israel selbst infrage gestellt. Die Massaker hätten Erinnerungen an die Machtlosigkeit in der Diaspora wachgerufen, »weil es keine Souveränität gab, die die Opfer hätte schützen können«. Sznaider fragt sich, wie diese Souveränität eben nach zionistischer Tradition zurückerlangt werden könne.
Auch wenn die israelische Tagespolitik nicht Thema dieser Konferenz ist – sie schwingt doch immer mit
Die Antwort findet er dann doch wieder in der Theorie: über die souveräne Definition des politischen Feindes, der durch politisches Handeln, durch Diplomatie und Bündnisse, aber auch Polizei und Armee, langfristig auch wieder zum politischen Freund werden kann. Israel dürfe sich eben nicht dem »Amalekismus« hingeben, also der Vorstellung, dass Judenhass ohnehin eine ewige Konstante sei und mögliche Bündnispartner per se Antisemiten. Das Modell zweier unabhängiger Staaten, wenn auch weiter weg denn je, müsse Horizont des politischen Handelns bleiben.
Auch wenn die israelische Tagespolitik nicht Thema dieser Konferenz ist – sie schwingt doch immer mit, gerade weil die Ideen des Zionismus sich bis heute ganz praktisch darin verwirklichen und widerspiegeln.
So zeigt Johannes Becke, Professor für Israelstudien an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, wie die Kibbuzbewegung es versäumte, Menschen jenseits des romantisiert-verklärten Muskeljuden in die Bearbeitung des Bodens einzubeziehen und die Früchte des Landes schließlich auch an die späteren Einwanderungswellen zu verteilen.
Die israelische Linke, die aus dieser Bewegung entsteht, erkrankt schließlich genau an jenen Ausschlussmechanismen, die bis heute nachwirken. »Die nahöstlichen Jüdinnen und Juden sind nicht ganz zufällig heute die treuesten Wähler der Rechten«, sagt Becke.
Wie stark die zionistischen Vordenker noch heute die israelische Politik prägen, beweist auch Hadar Jabotinsky
Wie stark die zionistischen Vordenker noch heute die israelische Politik prägen, beweist später auch Hadar Jabotinsky, Urenkelin ebenjenes Jabotinsky, auf dessen revisionistische Ideen sich heute die israelische Rechte beruft. Sie verteidigt, aus Israel zugeschaltet, das Erbe ihres Urgroßvaters, der für einen »starken jüdischen Staat mit sicheren Grenzen und einem ausgeprägten kulturellen Stolz« kämpfte. So energisch, dass das Berliner Publikum nur zögerlich ein paar Nachfragen stellt.
Ist der Zionismusbegriff nun nach links und rechts vorgedehnt, folgt, metaphorisch gesprochen, der Stretch nach ganz oben: Es geht um den religiösen Zionismus. Die letzte der drei großen zionistischen Strömungen, die – so die These von Johannes Becke – nach 1967 eine Radikalisierung durchlief, und zwar von der pragmatischen Mafdal-Partei, die als verlässlicher Partner der Linken galt und sich mit einem religiösen Zweig im Bildungssystem zufriedengab, hin zu den Endzeitfantasien der Siedler- und Tempelbewegung
Spannend ist hier seine These, dass sich die Radikalsten zunehmend aus einer jüdischen Tradition lösen und mit den kulturellen Praktiken ihrer selbst ernannten Feinde flirten: mit Märtyrerplakaten für israelische Soldaten, die jenen der Islamisten fast schon zum Verwechseln ähnlich sehen, und einer Faszination für biblische Inszenierungen, die an evangelikale Bibliodramen erinnern.
Zionismus bedeutet – so definieren es die Redner der Tagung in Berlin recht einheitlich –, die Existenz eines jüdischen Staates zu fordern, anzuerkennen und zu verteidigen. Aus welchen Überzeugungen, mit welchen Mitteln und für welche Werte man dies tut, und die Frage, wie der jüdische Staat oder – wie Natan Sznaider es sagt – ein Staat für Juden und alle, die dort leben, aussehen soll, bleibt derweil dynamisch, umkämpft, kurzum: sehr lebendig.