Erstmals betritt Herr Wendriner 1922 die Bühne, genauer »Die Weltbühne«. Am Tag der Beerdigung von Walther Rathenau ruht zum Gedenken an den von antisemitischen Freikorpsleuten ermordeten Außenminister zehn Minuten lang der Telefonverkehr in ganz Deutschland.
Wendriner kann deshalb seinen Geschäftspartner Skalitzer nicht erreichen und schimpft, während er immer hektischer auf die Verbindung wartet, vor sich hin: »Solln se sich totschießen oder nicht – aber bis ins Geschäft darf das doch nicht gehen! Überhaupt: Ein Jude soll nicht solches Aufsehen von sich machen. Das reizt nur den Antisemitismus!«
bourgeois 16-mal ließ Kurt Tucholsky diese »erbarmungslose Nacktaufnahme der deutsch-jüdischen Bourgeoisie«, wie Gershom Scholem Wendriner einmal charakterisierte, bis 1930 auftreten. Mittelalt, dicklich, borniert, aber mit bildungsbürgerlichen Allüren, von Beruf selbstständiger Kaufmann, monologisierte Wendriner in diesen kleinen Vignetten über Geschäfte, Politik, Kindererziehung und seine kleinen Affären aus der Perspektive des jüdischen Spießers und in dessen von Tucholsky präzise beobachtetem Tonfall: um das Hochdeutsch der besseren Gesellschaft bemüht, aber immer wieder in Berliner Färbung abgleitend, in die sich aller angestrengter Assimilierung zum Trotz gelegentlich auch jiddische Rudimente einschleichen: »Für was ist er Arzt?«
Zuletzt erscheint Wendriner im Oktober 1930. Anderthalb Jahre vor dem Machtantritt der Nazis lässt Tucholsky in einem prophetischen Text seinen Antihelden »unter der Diktatur« leben: »Na jedenfalls herrscht Ordnung!« Die Geschäfte laufen auch gut: »Beim H. weiß man wenigstens: Er geht eim nich ann Safe.« Und der Antisemitismus betrifft erst einmal ja nur die Ostjuden – »wissen Sie, denen gegenüber ist der wirklich berechtigt.« So haben in den ersten Jahren des Dritten Reichs tatsächlich viele gedacht.
aktuell In gesammelter Form sind die Wendriner-Geschichten bisher nie erschienen. Zwar hatten Tucholsky und seine Verlegerin Edith Jacobsohn vor, sie als Buch herauszubringen. Als Illustrator war George Grosz im Gespräch. Das Projekt scheiterte daran, dass die Verlegerin die Geschichten »zu scharf« fand. Erst jetzt erscheinen diese genialen Vignetten im Verlag für Berlin-Brandenburg, herausgegeben von Peter Böthig und Carina Stewen. Zusätzlich enthält der Band vier Monologe einer anderen Tucholsky-Figur, des Lottchens, einer leichtlebigen jungen Berlinerin, sowie den Briefwechsel in Sachen Wendriner zwischen Tucholsky und Edith Jacobsohn.
92 Jahre ist es her, dass Herr Wendriner erstmals von sich hören ließ. Von bloß historischem Interesse ist dieses Buch dennoch nicht. Das deutsche Judentum, heißt es allenthalben, ist wieder da – und mit ihm auch der deutsche jüdische Spießer. Der Typ neulich in der Synagoge zwei Reihen vor Ihnen, der ununterbrochen und lautstark über seine Geschäfte und seine Mischpoche redete – das war wahrscheinlich Herr Wendriner.
Kurt Tucholsky: »Herr Wendriner und das Lottchen«. Hrsg. von Peter Böthig und Carina Stewen. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2014, 96 Seiten, 14,99 €