»Manchen Besuchern traten Tränen in den Augen, als sie die von Kindheit an gewohnten Lewandowskischen Melodien und eine Predigt in ihrer Muttersprache wieder hörten«, erinnerte sich der Frankfurter Rabbiner Georg Salzberger an seine Zeit als Flüchtling in London. Der Kantor, der die vertrauten Melodien wieder zum Klingen brachte, war Magnus Davidsohn (1877–1958).
Zusammen mit Salzberger gehörte der langjährige Oberkantor der Synagoge Fasanenstraße zu den Begründern der New Liberal Congregation in London, der heutigen Synagogengemeinde Belsize Square, die im Mai ihr 75. Jubiläum feierte. Herbert Levy, der 1939 mit dem Kindertransport aus Berlin nach England geflüchtet war, denkt noch heute gerne an seinen Barmizwa-Unterricht bei Davidsohn zurück: »He was fantastic!«, sagt der 84-Jährige.
London Die Berliner Theaterkritikerin Esther Slevogt hat nun mit ihrer bei Hentrich & Hentrich erschienen Biografie Magnus Davidsohns das eindrucksvolle Leben des Kantors wieder in Erinnerung gerufen. »Wir nannten ihn den alten Wotan«, sagt Irene White, die den Kantor als Kind zuerst in Berlin und dann in London erlebte.
Slevogt greift in ihrer Biografie zwar auf ein Zitat von Conrad Rosenstein zurück, der den früheren Opernsänger als »eine Mischung aus Josua bin Nun und Parzival« beschrieb, spart aber dessen Kritik am großen Auftritt Davidsohns aus, wonach in dessen »priesterlicher Art ein gut Stück Scharlatanerie steckte«. Was Rosenstein die »Allüren eines Heldentenors« nannte, wird bei Slevogt zum »Nimbus«.
Zauberflöte Wer war dieser Künstler, dessen »hochentwickelte Sing- und Sprechkunst« immer wieder gerühmt wurde? Die Autorin zeichnet den Lebensweg von Davidsohn nach, der aus einer Familie von Künstlern und Kantoren im oberschlesischen Beuthen stammte und nach dem Studium an der Berliner Universität, der Hochschule für Musik und am Berliner Rabbinerseminar 1896 in Prag als »Sarastro« in Mozarts Zauberflöte debütierte.
Nach drei Jahren auf der Opernbühne des Deutschen Theaters in Prag entschied sich Davidsohn für seine wahre Berufung und wurde Kantor. Sein Weg führte ihn über Beuthen und Gleiwitz schließlich an die Synagoge in der Fasanenstraße. Dort amtierte er von ihrer Weihe im August 1912 bis zu ihrer Zerstörung während der Novemberpogrome 1938 als Hauptkantor.
Am Morgen des 10. November 1938 verneigte er sich vor den rauchenden Trümmern seiner Synagoge, um das Kaddisch zu sagen. Im Sommer 1939 gelang Magnus Davidsohn zusammen mit seiner Ehefrau Henriette die Flucht nach Großbritannien. Nach dem Tod seiner Frau zog Davidsohn 1956 nach Düsseldorf. Er starb 1958.
Liturgie Der Bariton hatte sich in Berlin nicht nur als Künstler einen Namen gemacht, sondern war auch Präsident des Allgemeinen Deutschen Kantorenverbandes, Redakteur der Zeitschrift »Der jüdische Kantor« und Dozent am Lehrerseminar des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden. Seine Erforschung liturgischer Musik schlug sich in einer bedeutenden Sammlung zur jüdischen Musiktradition und in zahllosen Beiträgen für das Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und andere Periodika nieder.
Manch einer dieser Artikel wäre auch für diese Jüdische Miniatur von Belang gewesen, etwa »Synagogenmusiker der Neuzeit«, der im Jahr 1928 im »Israelitischen Familienblatt« erschien. Während der Jahre in London wurde die New Yorker Zeitung »Aufbau« zu Davidsohns Forum.
Esther Slevogt gibt in ihrer Jüdischen Miniatur vier Texte Davidsohns wieder, die 1957/58 in der »Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung« erschienen sind und von seiner Leidenschaft für seinen Beruf zeugen; der Titel ist Davidsohns Beitrag über die Liturgie der Hohen Feiertage entlehnt, in dem es unter anderem heißt: »Man gewahrt, dass Jahrhunderte jüdischer Wanderung und jüdischen Leidens das Gebetbuch geformt haben, wie es sich heute darstellt. Wir beten Geschichte.«
Besonders anrührend ist aber der Verweis auf Davidsohns Appell von 1953, in Deutschland eine neue Lehrstätte für Kantoren und jüdische Lehrer zu schaffen – ein Wunsch, der sich erst vor ein paar Jahren erfüllt hat.
Esther Slevogt: »Magnus Davidsohn. ›Wir beten Geschichte‹«. Hentrich & Hentrich, Berlin 2014, 76 S., 8,90 €