»Bin ich das, was Sie suchen? Sicher nicht. Und trotzdem bin ich heute im Grunde Berlinerin geblieben, vielleicht schon durch die Tatsache, dass ich mir mein Deutsch bewahren konnte.« Dies schreibt die 80-jährige Hella Rabinowitsch im Sommer 1991 aus dem israelischen Rechovot an eine Historiker-Projektgruppe. Nancy Krisch, die Tochter von Berliner Schoa-Überlebenden, bekennt von Südafrika aus: »So, I love Berlin. Ich war mehrfach dort und fühlte mich in der Stadt sehr sicher.«
Ganz anders emotionalisiert und beinah empört fragt Eva Lewinberg im Sommer 1993 aus London: »Was haben Sie und der Senat von Berlin sich eigentlich dabei gedacht, an uns Berliner zu schreiben und uns aufzufordern, alte Wunden, die endlich notdürftig verheilt sind, wieder aufzureißen?«
Drei markante Statements von Jüdinnen, die – oder deren Eltern – nach 1933 gerade noch rechtzeitig aus Deutschland fliehen konnten und die sich auf verschiedensten Kontinenten ein neues Leben aufbauen mussten. Was geschah nun in und mit ihnen, wenn sich die einstige »Reichshauptstadt« noch einmal um Kontaktaufnahme bemühte, so geschehen seit den späten 60er-Jahren, als der (West-)Berliner Senat ein spezielles Besuchsprogramm für einst emigrierte Einwohner entwickelte? Wer war überhaupt bereit, zu antworten? Wer bereit, Erinnerungen zu teilen? Und wer kam tatsächlich noch einmal an die Spree?
VERFOLGUNG In Joachim Schlörs neuem Buch Im Herzen immer ein Berliner. Jüdische Emigranten im Dialog mit ihrer Heimatstadt kommen zahlreiche Frauen und Männer zu Wort, denen die Stadt weder aus dem Kopf noch aus der Seele entschwunden ist. Sie erzählen von harmonischen wie gefährdeten Kindheiten, einer Stadt voll diffuser, ungebändigter Energie, von Träumen und Freundschaften, von Verfolgung, Verletzung, Liebe und Zorn und dem letztlich unvermeidlichen Abschied.
Schlör war in den Archiven der Senatskanzlei, der Akademie der Künste und des Jüdischen Museums unterwegs. Besonders akribisch hat er aber Korrespondenzen ausgewertet, die von 1991 bis 1995 zwischen den Autoren des »Gedenkbuchs Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus« und den heute verstreut in aller Welt lebenden Emigranten und ihren Nachkommen geführt wurden. Briefe aus einer Zeit also, in der sich das Gesicht der alt-neuen Hauptstadt noch einmal rasant verändern sollte – sowohl nach innen wie nach außen.
Korrespondenzen Aus einem enormen Korpus an Zuschriften und Korrespondenzen hat Joachim Schlör, seit Langem auch Professor für Jüdische Studien an der Universität Southampton, mit viel Sorgfalt und Sensibilität für ein Buch von reichlich 200 Seiten ausgewählt. Er lässt die Ex-Berliner und ihre Kinder zu Wort kommen – und überlässt es schließlich den Lesern, all die unterschiedlichen Erinnerungen, Emotionen und Reflexionen zu interpretieren.
Wir begegnen so bekannten Namen wie den Schriftstellern Sammy Gronemann, Yoram Kaniuk und der Bestsellerautorin Angelika Schrobsdorff, aber auch Stimmen wie den eingangs zitierten, bei denen sich neben biografischen Brüchen und Traumata eine nie erloschene, häufig sehr emotionale Verbundenheit mit der Stadt Berlin vor allem an kulturellen Prägungen festmacht.
Das trifft laut Schlör nicht nur auf die deutsch geprägten Jekkes, sondern auch auf viele Ostjuden zu, die ihre spezifischen Berlin-Bilder – seien es auch die von armen Hausierern und einfachen Arbeitern -- für immer mit ins Exil nahmen.
Ergänzt werden die Erinnerungen und Kommentare durch Familienfotos, Postkarten, Manuskript-Notizen, Zeichnungen oder Aquarell-Abbildungen – etwa von den Emigranten Enrique (Heinz) Wallenberg und David Friedmann. Alles in allem ein Buch, das ein wichtiges Stück jüdischer Geschichte Berlins zurückbringt und zugleich für das heutige Judentum der Stadt an Bedeutung gewinnt.
Joachim Schlör: »Im Herzen immer ein Berliner.« Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2021. 208 S., 28 €
Joachim Schlör