Film

Heimat ohne Juden

Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):

Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.

Sechzig Stunden Laufzeit, 150 Jahre deutscher Geschichte, gedreht seit 1981 – kein Superlativ scheint für die Heimat-Saga von Edgar Reitz über eine Familie im Hunsrück zu groß. Seit voriger Woche ist mit Die andere Heimat ein neues Kapitel im Kino zu sehen. Ein würdiger Abschluss eines filmischen Großprojektes, so heißt es. Doch das gigantische Epos hat tönerne Füße, die tief im geschichtsvergessenen Sumpf stehen.

Heimat – eine deutsche Chronik wurde 1984 im Fernsehen in elf Folgen ausgestrahlt, es folgten Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend und Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende. Als Abschluss erzählt Die andere Heimat jetzt von Auswanderern nach Brasilien im 19. Jahrhundert. Ankerpunkt ist das Dorf Schabbach im Hunsrück und die Familie Simon.

legende Ein Großwerk wie Heimat hat natürlich eine Schöpfungslegende. Reitz, einer der Köpfe des deutschen Autorenkinos der 70er-Jahre, hatte sich nach dem Flop seines Films Der Schneider von Ulm in eine Hütte auf Sylt zurückgezogen, um Gedichte zu schreiben. Dabei wurde er im Fernsehen Zeuge einer, wie er fand, großen Ungerechtigkeit: Holocaust.

Es ist eine Geschichte über die alte Bundesrepublik, die so oft erzählt wird, dass man sie für einen Mythos halten könnte: dass der amerikanische Mehrteiler Holocaust bei der deutschen Erstausstrahlung im Januar 1979 der Anlass für die erste echte Auseinandersetzung mit der Schoa und der Schuld der Deutschen war. Die deutsch-jüdische Familie Weiss, stellvertretend für die Juden Europas, durchlebt alle Schrecken der Verfolgung und Vernichtung. Wie auf einer Checkliste werden alle wichtigen Stationen und Orte abgehakt: Babi Jar, das Warschauer Ghetto, diverse Lager.

Die Serie wurde zu einer cause célèbre. Gerade wegen ihrer Melodramatik ließen sich bis zu 15 Millionen Zuschauer auf das Schicksal der Familie Weiss ein – und kamen darüber auf Fragen wie die, was aus den eigenen jüdischen Nachbarn wurde, wieso niemand protestiert hatte, was der Vater eigentlich an der Ostfront so gemacht hatte und so weiter.

Diese Form der Geschichtsaufarbeitung gefiel nicht allen. An Holocaust rieben sich die Verschweiger, Vertuscher und Vergesser. Dabei sprang der Funke auch über: Der Terrorist Peter Naumann, heute NPD, jagte damals zwei Sendemasten in die Luft, im Münsterland und im Hunsrück.

feindbild Amerika Im Hunsrück spielt auch Reitz’ 1981/82 gedrehte 15-stündige Familiengeschichte Heimat. In dem fiktiven Dorf Schabbach, angelehnt an Reitz’ Geburtsort Morbach, lebt die Familie Simon. Die Handlung setzt 1919 ein und reicht bis ins Jahr 1982. Der Fokus liegt auf den Jahren zwischen 1929 und 1947. Einer der Simons, Paul, geht 1928 heimlich nach Amerika, um sein Glück zu machen. Sein Bruder Eduard bleibt in Schabbach, wird NSDAP-Mitglied und Bürgermeister.

Die Simons sollen dabei für eine Kollektiverfahrung stehen, für die deutsche Geschichte selbst – Heimat kündigt sich selbst als »deutsche Chronik« an. An diesem Ganzheitsanspruch irritiert allerdings, dass die Judenverfolgung nur marginal vorkommt. Hier und da gibt es ein paar Stellen, die wegen ihrer Knappheit tatsächlich länger im Gedächtnis bleiben – dass eine Wohnung wegen »Auszugs« eines Juden sich plötzlich vergrößert, ein paar antisemitische Äußerungen. In Russland filmt Anton Simon, der mit seiner Leidenschaft für Kameras quasi Stellvertreter von Reitz selbst ist, die Erschießung von Juden. Nichts davon wird später noch einmal erwähnt.

Erst mit der Befreiung durch die Amerikaner kommt eine moralisch urteilende Dimension in den Film. Gegeißelt werden diejenigen, die ihre Heimat und ihre Seele an den »Ami« verkaufen. Dazu gehört auch Paul, der 1945 als Mann mit Cowboyhut nach Schabbach zurückkehrt.

Für Edgar Reitz ging es bei Heimat um filmischen Nationalstolz. In seinem Produktionstagebuch notierte er: »Schon wieder eine Begegnung mit der internationalen, also der amerikanischen Ästhetik. Sie ist der eigentliche Terror. (…) Gerade jetzt, im Augenblick des Erfolges, verlieren wir die Identität, die Heimat wird zum letzten Mal und dafür ganz entäußert.« Holocaust war für ihn ein Symptom dieser Veräußerung.

Nun kann man gegen die amerikanische Produktion einiges einwenden – doch Reitz störte sich nicht an der Verkitschung der Schoa. Er hatte das Gefühl, so der israelische Historiker Omer Bartov, dass den Deutschen von den Juden ihre eigene Geschichte weggenommen wurde – erst durch den Holocaust und dann noch einmal durch Holocaust.

Geschichtsbild Reitz jedenfalls wollte keinen »Pflichtjuden« in seinem Film – und überhaupt sei »die Frage der Juden und des Nationalsozialismus eine Thematik, zu der unendlich viel erzählt worden ist«. Ihn interessierte die Schoa nicht wirklich, weil sie nicht in sein Verständnis deutscher Geschichte passt und sie ihm deswegen auch nicht von außen aufgezwungen werden sollte. Er wollte seinen Hunsrück vor Holocaust beschützen. Dazu gehörte die Behauptung, dass es im Hunsrück sehr wenige Juden gegeben hätte. Was »sehr wenige« im Vergleich zu »sehr viele« bedeutet, ist unklar – aber in Laufersweiler, 20 Kilometer von Reitz’ Heimat Morbach entfernt, gab es 1925 eine jüdische Gemeinde mit 75 Mitgliedern, was acht Prozent der Gesamteinwohnerschaft entsprach. Allein aus Laufersweiler wurden laut Yad Vashem 37 Menschen während der NS-Zeit ermordet. In den ebenfalls nahen Gemeinden Sohren, Simmern und Kirchberg sah es ähnlich aus.

Auch sie waren Hunsrücker gewesen, wie die Familie Simon, von der Reitz erzählt. Mit einem Unterschied: Sie waren auch Juden. Im Weltbild von Edgar Reitz aber gibt es nur »Dableiber« und »Weggeher«. Der Einfluss der Amerikaner nach 1945 soll alle Deutschen zu »Weggehern« im eigenen Land machen, um eine »neue Kultur« zu schaffen, beklagt Reitz: »Eine neue Gesellschaft von Menschen, die nur sich selbst als Ware anzubieten haben und so Konkurrenz auf Leben und Tod treiben.«

Und weiter: »Was diese vielen Individuen hervorbringen an Fähigkeiten, Erfindungen, Produkten (...), dient ausschließlich dem Handel, der immer neue, auffällige Angebote verlangt, der alles mit einer gemeinsamen Umgangssprache des Handels verbindet.« Und schließlich: »Die Juden, seit je auch ›Weggeher‹, passen gut in diese amerikanische Kultur, die nur noch expandieren will, die Konkurrenz auf allen Gebieten betreibt. Konkurrenz ist ihre eigentliche Sprache.«

nationaler mythos Eindeutiger könnten diese Worte – die jeder nachlesen kann in einem Produktionstagebuch, das erst 2004 neu aufgelegt wurde – nicht sein. Aus ihnen klingt der ganze Gedankentrümmer der Generation von Reitz durch: das amerikanische Trauma, das »raffende Kapital«, nicht zuletzt die Mythologisierung des Juden als wurzelloses Gegenbild. Man kennt das ähnlich von Martin Walser und Hans-Jürgen Syberberg, auch sie Deutsche mit komplizierten Heimatgefühlen.

Immer dieses Wort, Heimat. Bei Reitz ist es nicht ironisch gebrochen, sondern affirmativ. In Die andere Heimat, mit der pünktlichen Premiere am Tag der Einheit, feiert Reitz jetzt nicht die Sehnsucht nach der Ferne, sondern das Deutsch-Bleiben auch in der Ferne. Heimat ist das, wo sich Blut und Boden verbinden, was man nicht aufgeben darf – und Heimat ist das, wo es keine Juden geben kann.

Mag sein, dass Kunst immer klüger als der Künstler ist – dass Reitz ungewollt ein Meisterwerk über Verdrängung und Vergessen geschaffen hat, weil die gefilmte Erschießung eben nicht nachhallt, nicht das »dunkle Kapitel« ist, sondern Normalität. Sein eigentlicher Impuls ist trotzdem klar: Heimat will die von der Geschichte gequälte deutsche Seele heilen.

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