Essay

Heillos zerstritten

Aus der Ferne gesehen, beunruhigt die Neigung zur gegenseitigen Denunziation. Sie hat einen Anflug von Hysterie. Foto: Thinkstock

Wir haben oft Besuch aus Deutschland. Es plaudert sich so angenehm in der Muttersprache. Unsere Gäste sind zu klug, um der Anti-Israel-Berichterstattung deutscher Medien zu glauben, sie fliegen her, trauen ihren Sinnen, amüsieren sich in Tel Aviv, besuchen historische Orte in Jerusalem oder wandern in der Negevwüste, die dieser Tage eine riesige Baustelle ist.

Sie lieben Israel, die Menschen, das Land, das schöne Wetter. Wir trinken mit ihnen Tee, lassen uns von ihren Abenteuern erzählen, manchmal versuchen wir zu erklären, was sie nicht verstehen. Nach der politischen Richtung haben wir nie gefragt. Auch nicht nach der Partei, die jemand wählt.

wut Das ist vorbei. Meine deutschen Freunde sind heillos zerstritten. Sie sprechen von »roten Linien« und davon, dass man zu dieser oder zu jenem die Beziehungen abbrechen müsse. Sie erwarten auch von mir Parteinahme. Manche von ihnen kenne ich seit Jahrzehnten. Doch mittlerweile ist in Deutschland etwas geschehen: Eine neue Partei macht sich bemerkbar. Sie profitiert von den Fehlern der alten. Eine Partei, die mit der Furcht etlicher Deutscher vor einer »Überfremdung« jongliert. Die mit radikaler Wut gebrochene Versprechen und die Volksferne der etablierten Parteien thematisiert. Die das Trauma des verletzten Stolzes berührt, den bis heute nicht verwundenen Schmerz der großen Niederlage.

Einige Aussagen von Vertretern dieser Partei sind für Juden sehr beunruhigend. Die Deutschen sollen wieder auf die »Leistungen« der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg stolz sein – ist damit auch die Beteiligung an den Juden-Deportationen in die Konzentrationslager gemeint? Die Schuld, die nach diesen Verbrechen wie ein Schatten über dem deutschen Selbstgefühl liegt, wollen einige durch Leugnen oder Relativieren verringern. Psychologisch gesehen, ist das unmöglich. Ein Trauma hinterlässt bleibende Narben, auch ein Schuld-Trauma.

Ich vermute, dass solche Äußerungen auch viele Deutsche abgestoßen haben. Fast sechs Millionen Wähler haben trotzdem für die »Alternative für Deutschland« gestimmt. Ohnehin werden judenfeindliche Ressentiments im heutigen Deutschland kaum noch als schockierend empfunden, so alltäglich sind sie geworden. Selbiges gilt für die Israel-Feindlichkeit von Politikern anderer Parteien, etwa der SPD, der Linken und der Grünen.

Flüchtlinge Die AfD verdankt ihren Aufstieg weniger ihrer eigenen Attraktivität als dem Versagen der etablierten Parteien. Etwa der dilettantischen Flüchtlingspolitik der letzten Bundesregierung. Man hat durch plötzlichen, unkontrollierten Einlass von Hunderttausenden Muslimen vollendete Tatsachen geschaffen, Behörden und Bevölkerung mussten dann zusehen, wie sie mit der Überraschung zurechtkamen.

Auch viele Israelis haben sich über dieses naive Vorgehen gewundert. Es verriet – abgesehen von der Frage, ob die Entscheidung sinnvoll war oder nicht – eine so geringe Achtung gegenüber den demokratischen Rechten der Deutschen, dass der verbreitete Unmut verständlich war. Statt der Kritik wenigstens nachträglich Gehör zu schenken, wurden die Kritiker als fremdenfeindlich, rassistisch und Schlimmeres abgetan.

Zurück nach Israel und zu meinen Besuchern aus Deutschland: Aus der Ferne gesehen, beunruhigt die Neigung zur gegenseitigen Denunziation. Sie hat einen Anflug von Hysterie. War die tolerante Stimmung, die Deutschland in den letzten Jahren so liberal und modern erscheinen ließ, nur ein Rausch, ein generöses Geschehenlassen in den Jahren des Erfolgs? Jetzt fliegen Totschlags-Vokabeln durch die Luft, schnell wird man als »Rassist« oder »Gutmensch« verurteilt, dem »rechten« oder »linken« Lager zugeordnet, werden die Ostdeutschen als »zurückgeblieben« denunziert, andererseits die Medien als »Lügenpresse«.

Xenophobie An allem ist ein wenig Wahrheit: Es gibt rassistisch eingestellte Deutsche, es gibt auch viele mit verkümmerten Gefahrbewusstsein gegenüber dem radikalen Islam, es gibt eine Neigung zur Xenophobie in den östlichen Bundesländern, doch es gibt auch die alte Arroganz der Wessis. Und dass Zeitungen und Fernsehen bei Gelegenheit Unwahrheiten verbreiten, weiß jeder, der die Nahost-Berichterstattung verfolgt.

Mit dem Einzug der AfD wird der Bundestag ein wenig von der Gemütlichkeit einbüßen, die sich dort in den vergangenen Jahren breitgemacht hatte. Eine Demokratie ohne Opposition ist verloren, und wenn sie nun von dieser Seite kommt, liegt es auch an denen, die keine bessere zuwege brachten. Man kann nicht erwarten, dass sich die vom öffentlichen Diskurs Ausgeschlossenen nicht schließlich doch ein stimmkräftiges Organ verschaffen.

Von hier aus gesehen, ist die ungeheure Erregung, die aus Deutschland herüberweht, nicht ganz verständlich. In Israel gibt es nicht nur sechs Parteien im Parlament, sondern zehn, das Spektrum reicht von post-kommunistisch bis ultraorthodox, die Debatten gehen gelegentlich in Tumulte über – man wertet es hier als Zeichen lebhafter Demokratie. Daher kann ich nicht einstimmen in die Klagen oder Entsetzensrufe vieler meiner deutschen Freunde, weil die bisher übersichtliche politische Landschaft unruhiger zu werden verspricht.

Gesinnung Ein Wort noch über das Hochkommen von Regungen, die man überwunden glaubte, den immer bestehenden Untergrund von Antisemitismus und Fremdenhass. Und darüber, dass Deutschland offenbar nicht das Land ist, als das viele Deutsche es gern sehen würden: das Musterland guter Gesinnungen, geläutert, lupenrein. Es wäre auch zu schön, um wahr zu sein.

Der Autor wurde 1954 in Ost-Berlin geboren und lebt seit 1995 in Israel. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Schlaflos in Tel Aviv« (2016, Verbrecher Verlag)

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