Frau Feinberg, Sie erzählen in Ihrem neuen Buch von Ihrer Familie, die aus Litauen stammte, später in Schweden lebte und 1924 eine Villa in Berlin-Schöneberg baute, die zu einem Zentrum des zionistischen Lebens in der Hauptstadt wurde – bis Ihre Großeltern 1934 nach Palästina auswanderten. Erzähler der Geschichte ist David, der Hebräischlehrer Ihrer Mutter. Hat es ihn wirklich gegeben?
Meine Mutter hatte tatsächlich einen Privatlehrer, weil sie als Neunjährige aus Schweden nach Berlin kam und damals kaum Deutsch konnte.
Im Buch hat der Lehrer mit seinen Hebräischstunden nicht viel Erfolg …
Das hat einen realen Hintergrund: Bis zu ihrem Lebensende sprach meine Mutter gut Englisch, Deutsch und Französisch, aber Hebräisch nur, wenn sie musste. In Israel hat sie die »Jerusalem Post« abonniert und keine hebräischen Zeitungen gelesen, obwohl meine Großmutter »Haaretz«-Leserin war.
Sie haben jahrelang in Archiven geforscht. Dann hatten Sie sehr viel Material und eine Schreibblockade. Was hat Ihnen geholfen, sie zu überwinden?
Es dauerte sehr lange, weil ich mich selbst nicht in diese Geschichte hineinbringen wollte. Deswegen habe ich mich bewusst gegen das Genre Roman entschieden und die sogenannte Doku-Fiktion bevorzugt. Obwohl alles auf akribischer Recherche beruht und die Fakten belegt sind, wollte ich kein wissenschaftliches Buch schreiben und keine Fußnoten setzen, sondern eine lebendige Familiengeschichte erzählen und in einen größeren Zusammenhang einbetten.
Ihre Großeltern lebten säkular, dennoch sind viele Kapitel des Buchs mit »Schabbat« oder »Schabbat-Ausgang« überschrieben. Woran liegt das?
Weil der Hebräischlehrer im Buch nur am Wochenende Zeit hatte, Tagebuch zu führen. Meine Großeltern Braina und Faivel Grüngard haben den Schabbat nicht traditionell begangen. Trotzdem traf sich während meiner Kindheit in Israel die ganze Familie am Freitagabend zu gemeinsamen Mahlzeiten mit Gefilte Fisch und Lokschenkugel. Und in der Berliner Villa wurden am Freitagabend ständig zahlreiche Gäste bewirtet.
Ihre Mutter – Inga beziehungsweise mit hebräischem Namen Ayala – war, wie sie Ihnen erzählt hat, in Berlin nicht glücklich. Was hat sie unglücklich gemacht?
Die meisten ihrer jüdischen Mitschülerinnen an der Rückert-Schule waren deutsche Jüdinnen. Auf meine Mutter als »Ostjüdin« haben sie herabgeschaut. Außerdem war die ständige Unruhe in der Villa zu viel für sie. Der »Salon« meiner Großmutter führte dazu, dass das Haus immer voll war – Fremde, Bekannte, Freunde, Verwandtschaft. Für meine Mutter, so sagte sie einmal, gab es ein Haus, aber kein Zuhause.
Ihre Großeltern unterhielten gesellschaftliche Beziehungen zu allen wichtigen Zionisten Deutschlands. Auch Schriftsteller wie Saul Tschernichowski und Avraham Shlonsky zählten zu ihren Gästen. War es bei Ihrer Familiengeschichte also kein Zufall, dass Sie Professorin für hebräische Literatur in Deutschland werden würden?
Das scheint auf den ersten Blick nahezuliegen, aber so einfach ist das nicht. Denn auch andere Faktoren im Leben spielen eine Rolle, die man nicht unbedingt beeinflussen kann.
Von Ihren Großeltern haben Sie eine große Bialik-Ausgabe geerbt. Was bedeutet Ihnen Chaim Nachman Bialik – und wie wird er in Israel, abgesehen von Pflichtlektüre in Schulen, heute noch gelesen?
Ich bin mit Bialiks Werken aufgewachsen – und übrigens hat Bialik, obwohl er selbst keine Kinder hatte, wunderschöne Gedichte für Kinder geschrieben, wie »Nadneda« oder das Lied »Lichwod Ha-Chanukka«. Sein Werk ist für mich sehr wichtig, ich schätze ihn außerordentlich. Aber der durchschnittliche Israeli kennt leider nur wenige Gedichte von ihm. Das liegt auch an Bialiks Sprache, die im Vergleich zum heutigen Hebräisch sehr gehoben ist und aus den hebräischen Quellen des Judentums schöpft. Damit können nicht alle etwas anfangen, obwohl Bialik bis heute als Israels Nationaldichter gilt.
Bereits im Oktober 1930 sprach Bialik von »düsteren Wolken am deutschen Himmel« und schrieb: »Schlimm und bitter wird das Schicksal der Juden in Goethes Land sein.« Was hat Ihre Großeltern bis 1934 in Deutschland gehalten?
Es gab einen sehr pragmatischen Grund: Meine Mutter sollte vor der Auswanderung nach Palästina noch ihr Abitur in Berlin ablegen. Ihr Bruder hat 1933 sein Studium an der Humboldt-Universität abgebrochen, weil er die antisemitischen Übergriffe nicht länger ertragen konnte. Aber mein Großvater hatte bereits zuvor durch den Kauf von Land in Eretz Israel die Einwanderung nach Palästina vorbereitet und die Jaffa Goldfruit Cooperative Society gegründet. Er reiste regelmäßig dorthin, 1932 sogar mit den Kindern zur ersten Makkabiah.
Die Großeltern nahmen auch an der Gründungsveranstaltung der Hebräischen Universität Jerusalem teil. Wie sehr wirkt die zionistische Erziehung bei Ihnen nach?
Meine Kindheit und Jugend in den ersten Jahren des Staates Israel war naturgemäß zionistisch geprägt. Die hebräische Sprache, mit der ich aufgewachsen bin, ist meine Heimat. Und egal, wo ich leben werde, wird sie es auch bleiben. Ich habe 30 Jahre hebräische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg unterrichtet und mich für Übersetzungen sowie Lesungen von israelischen Autoren in Deutschland eingesetzt.
Dort, wo früher die Villa stand, in der Freiherr-vom-Stein-Straße 13 am Volkspark Schöneberg, ist heute ein Kindergarten. Mit welchen Gefühlen gehen Sie an diesem Ort vorbei?
Meine Großeltern haben die Villa nach ihrer Auswanderung vermietet, im Krieg wurde sie durch einen Bombenangriff zerstört. Meine Großmutter hat das Ruinengrundstück in den 50er-Jahren ans Land Berlin verkauft. Das Gebäude, das ohnehin nicht mehr steht, hat wenig Bedeutung für mich. Ohne die Menschen, die ich so sehr liebe, auch wenn sie längst tot sind, empfinde ich die Villa als einen verwaisten Raum.
Mit der Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin sprach Ayala Goldmann. Anat Feinberg: »Die Villa in Berlin. Eine jüdische Familiengeschichte 1924–1934«. Wallstein, Göttingen 2022, 232 S., 26 €