Seine schmalen Finger tasten sich zum Tisch vor. Anatol Chari zieht ein weißes Tablettenkästchen zu sich, schiebt die Plastikabdeckung vor und nimmt sieben Pillen heraus – längliche, runde, weiße und bunte. »Das ist meine Morgenration«, erklärt der kleine ältere Herr und schluckt die Medizin herunter. Ganz ohne Wasser. Für Chari kein Problem. »Alles eine Sache der Gewöhnung«, sagt er und zwinkert, so als habe er gerade einen Witz erzählt.
sonderkommando Gewöhnung ist das Leitmotiv, das sich durch sein Leben zieht, seit Anatol Chari 16 war. »Ich muss-te mich an Hunger gewöhnen, an Kälte und daran, täglich um das Überleben meiner Familie zu kämpfen.« 1923 in eine angesehene jüdische Familie im polnischen Lodz geboren, wurde Chari nach dem Einmarsch der Deutschen in das Ghetto der Stadt verfrachtet. Von einem Tag auf den anderen musste er erwachsen werden. Statt sich mit Pubertätsproblemen herumzuschlagen, war er mit existenziellen Herausforderungen konfrontiert: »Wie überstehe ich das Ghetto, und woher bekomme ich genügend zu essen für meine Großeltern, meinen Vater und mich.« Die praktische Antwort darauf war, der Ghettopolizei, dem sogenannten Sonderkommando, beizutreten. Als »Sonder«, hatte man Vorteile. Es gab mehr und besseres Essen, sogar Zigaretten. Manchmal sagt der heute 87-Jährige, hatte er es »gar nicht so übel«. Und schaut dabei mit seinen kleinen Augen so ernst, als dulde er keine Widerrede.
galgenhumor Über seine Zeit im Ghetto und nach dessen Auflösung 1944 in den KZs Auschwitz, Groß-Rosen und Bergen-Belsen hat Anatol Chari zusammen mit dem jungen amerikanischen Historiker Timothy Braatz ein Buch geschrieben. Undermensch beschreibt unsentimental, mit schonungsloser Offenheit und einer gehörigen Portion Galgenhumor, wie der junge Anatol überlebte: »Man brauchte eine gewisse Findigkeit, Freunde, hier und da einen Akt der Güte und vor allem – Glück.« Chari macht keinen Hehl daraus, dass er, so gut es unter den Umständen ging, der eigene Schmied dieses Glücks war. Moralische Kritik daran lässt er nicht gelten. »Ich ärgere mich sehr darüber, wenn ich höre, wie Überlebende behaupten, sie hätten ohne Privilegien überlebt oder seien frei von Egoismus gewesen«, schreibt er in seinen Erinnerungen. Den Vorwurf, als Ghettopolizist Werkzeug der Nazis gewesen zu sein, lässt er nicht gelten. »Jeder, der überlebt hat, war Kollaborateur.« In der Hackordnung des Lagerlebens war ein Bissen Brot wichtiger als alle moralischen Skrupel. »Ich hatte es im Konzentrationslager nicht so schlecht. Die, die es wirklich schlecht hatten, sind nicht mehr hier, um es zu erzählen.«
lebenslust Chari trägt um den Hals einen unübersehbaren goldenen Chai-Anhänger. »Den habe ich von meiner Cousine aus Israel. Aber religiös bin ich nicht.« Vor den rabbinischen Gelehrten allerdings habe er großen Respekt, schiebt er schnell nach. Der 87-Jährige mit der heiseren Stimme spricht deutsch mit amerikanischem Akzent. »Ich lebe schon fast 60 Jahre in den USA, aber die deutsche Kultur und die Sprache waren und sind mir immer sehr nah.« Tony, wie ihn seine Freunde nennen, zitiert gern Goethe und bewegt dabei die Hände im Rhythmus des Reims. Dann sieht er aus, als sei er selbst ein Lyriker. Tatsächlich ist Anatol Chari Zahnarzt. Sofort nach der Befreiung 1945 begann er, in Frankfurt am Main Zahnmedizin zu studieren und schloss 1951 mit der Promotion ab. »Eigentlich wäre ich viel lieber Journalist oder Rechtsanwalt geworden, denn beide Berufe haben etwas mit Nachdenken zu tun.« Der Vorteil des prosaischeren Berufs des Zahnarztes war allerdings, dass der damals 28-Jährige problemlos ein Visum für die USA bekam. Dort baute er eine erfolgreiche Praxis als Paradontologe auf.
Seit seiner Pensionierung hält Chari Vorträge vor Teenagern. »Ich gehe in Schulen und erzähle von meinem Leben.« Das hat er zum ersten Mal für seine damals 11-jährige Tochter getan. Psychische Barrieren, sich zu erinnern, wie andere Überlebende sie oft haben, kennt Chari nicht. »Das gehört nun mal zu mir.« Die Erinnerung an das Ghetto und an die drei Konzentrationslager, die er überlebte, kann er nicht abschütteln. »Ich schlafe nicht besonders gut. Aber im Großen und Ganzen ist mein Leben jetzt wunderschön.« Anatol Chari hat ein Haus in Laguna Beach in Kalifornien, nah am Strand. Seine Familie ist bei ihm, er hat viele Freunde und ein neues Hobby, seine große Weinsammlung. »Eine gute Chardonnay-Auslese passt immer«, schwärmt er. »Damals im Ghetto war die Zukunft die Suppe am Abend. Deswegen genieße ich heute mein Leben.«
Anatol Chari: Undermensch: Mein Überleben durch Glück und Privilegien. Übersetzt von Franka Reinhart. dtv, München 2010, 240 S., 14,90 €