Im Antisemitismus-Skandal um die documenta wächst fast vier Wochen nach Eröffnung der Weltkunstschau in Kassel der Druck auf Generaldirektorin Sabine Schormann. Nach Rücktrittsforderungen an Schormann unter anderem durch den Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, Daniel Botmann, hat jetzt Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) eine Erklärung auf der Website der documenta bemängelt, in der sich Schormann gegen Kritik am Umgang der Weltkunstschau mit den Antisemitismus-Vorwürfen verteidigte.
Der Jüdischen Allgemeinen sagte ein Sprecher Roths am Mittwochnachmittag: »Über das Statement von Frau Schormann war die Kulturstaatsministerin sehr erstaunt und befremdet. Denn eine lückenlose Aufklärung, wie es zur Aufstellung eines eindeutig antisemitischen Kunstwerkes bei dieser documenta kommen konnte, steht weiter aus, wie auch die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Es ist zunehmend fraglich, ob die documenta-Generaldirektorin das leisten kann oder will.«
TARING PADI Kurz nach Eröffnung der Schau am 18. Juni in Kassel war eine Arbeit mit massiv antisemitischer Bildsprache entdeckt worden. Das Banner »People’s Justice« des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi wurde daraufhin zunächst nur verhüllt und wenig später abgehängt.
Doch bereits ein halbes Jahr vor dem Beginn der documenta fifteen waren Antisemitismus-Vorwürfe gegen das indonesische Kuratorenkollektiv ruangrupa laut geworden. Auch die Jüdische Allgemeine hatte im Vorfeld vor den Konsequenzen der Nähe vieler Akteure zur Israel-Boykottbewegung BDS gewarnt. Jüdische Künstler aus Israel wurden gar nicht erst eingeladen.
In dem jüngsten Statement der documenta-Generaldirektorin Schormann heißt es unter anderem: »In den Gesprächen im Januar empfahlen Bund (BKM) und Land (HMWK) zusätzlich, externe Expertise einzuholen. Dafür wurde kein feststehendes, beim Aufsichtsrat angesiedeltes Gremium, sondern ein fünfköpfiges Berater*innen-Team zur Unterstützung der Künstlerischen Leitung und der Künstler*innen sowie der gGmbH eingesetzt. Die Koordination übernahm auf Empfehlung unter anderem des BKM und in Abstimmung mit dem Künstlerischen Team die Autorin und Kuratorin Emily Dische-Becker.«
EMILY DISCHE-BECKER Doch Emily Dische-Becker, die Anfang Juni die umstrittene Konferenz »Hijacking Memory« im Haus der Kulturen der Welt mitorganisiert hatte, sagte der Jüdischen Allgemeinen auf Anfrage, sie könne nicht bestätigen, von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien (BKM) Claudia Roth als Beraterin für die documenta vorgeschlagen worden zu sein: »Die irreführende Darstellung der Generaldirektorin gibt den Ablauf der Geschehnisse nicht zutreffend wieder.«
Sie habe die documenta auf deren Bitten beraten, »auch in der Frage der Zusammenstellung eines Expertengremiums«. Die Beauftragte für Kultur und Medien habe »wie in der Presse berichtet der documenta Vorschläge unterbreitet. Diese hat die documenta leider nicht weiterverfolgt«. Sie selbst, so Dische-Becker, sei im Anschluss in der medialen Beratung und vor allem in die konzeptionelle Beratung des Forums »We Need to Talk« eingebunden gewesen, das später abgesagt wurde: »Mein Vertrag zur internen Beratung endete vor der Eröffnung der documenta«, erläuterte Dische-Becker.
Auch vonseiten Claudia Roths hieß es, Schormanns Aussagen und die Darstellungen zu den Abläufen in den vergangenen Monaten seien »so nicht zutreffend«. Ein Sprecher sagte der Jüdischen Allgemeinen: »Wir haben von unserer Seite den auch in der Presse schon berichteten Vorschlag eines Gremiums mit folgenden Expertinnen und Experten gemacht: Manuela Consonni, Raphael Gross, Edna Harel-Fisher, Meron Mendel. Dieser Vorschlag wurde von der documenta nicht weiterverfolgt, sondern diese hat eine dann später abgesagte Gesprächsreihe vorbereitet, die weder inhaltlich noch personell dem Vorschlag der BKM entsprach.«
MERON MENDEL Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, äußerte ebenfalls Befremden über das jüngste Statement Schormanns. Zudem forderte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am Mittwoch die Richtigstellung und Aufklärung von »Unwahrheiten« durch den Aufsichtsrat der documenta. Er ahne, dass Frau Schormann auch jetzt keinen Plan habe, »den Karren aus dem Dreck zu ziehen«, sagte Mendel weiter.
Bereits zuvor hatte Mendel den Organisatoren der Kunstschau vorgeworfen, auf den Antisemitismus-Skandal nicht ausreichend reagiert zu haben. Der Pädagoge kündigte in diesem Zusammenhang in der vergangenen Woche sein Engagement als externer Experte und warf der documenta-Leitung vor, «auf Zeit zu spielen». Die Generaldirektorin habe »weder geeignete Rahmenbedingungen geschaffen noch ein angemessenes Tempo an den Tag gelegt«.
Es gebe »auf der documenta jede Menge Gutes, aber bei der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Antisemitismus-Skandal vermisse ich den ernsthaften Willen, die Vorgänge aufzuarbeiten und in einen ehrlichen Dialog zu treten«, wurde Mendel im »Spiegel« zitiert.
KUNSTWERKE Die Organisatoren der Ausstellung hatten als Konsequenz aus dem Skandal um das antisemitische Bild von Taring Padi angekündigt, alle weiteren Werke mithilfe externer Experten auf antisemitische Inhalte zu prüfen. Mendel sagte jedoch in dem Deutschlandfunk-Interview, er sei vor drei Wochen beauftragt worden, Kunstwerke zu sichten, habe jedoch nach zweieinhalb Wochen kein einziges Kunstwerk zur Sichtung bekommen.
Die hessische Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) teilte unterdessen dem Deutschlandfunk mit, die Vertreter des Landes Hessen hätten eine außerordentliche Sitzung des Aufsichtsrats der documenta beantragt, die zeitnah stattfinden solle. Laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung soll die Sitzung an diesem Freitag stattfinden.