»Die Kirche fürchtet die Geschichte nicht.« Mit diesen Worten hat Papst Franziskus Anfang März die Archive des Vatikan zum Pontifikat seines Vorgängers Pius XII. (1939-58) geöffnet.
Pius XII., mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli, ist einer der umstrittensten Oberhirten der jüngeren Kirchengeschichte. Einerseits rettete er wohlmöglich mehreren Tausend italienischen Juden das Leben, weil er kirchliche Einrichtungen als Verstecke öffnen ließ. Andererseits protestierte er nie deutlich gegen den Holocaust.
Dieses Szenario thematisiert die 45-minütige Dokumentation »Die Geheimnisse der Akten - Der Vatikan öffnet seine Archive« von Lucio Mollica, die die ARD im Ersten am 18. Mai um 23.30 Uhr zeigt.
Was hat der Papst wann vom Holocaust erfahren? Wer hat ihn informiert und warum schwieg er? Von der Öffnung der Archive versprechen sich Wissenschaftler ein schärferes Bild der Person Pacellis. Von ihren Erkenntnissen könnte auch abhängen, ob das Seligsprechungsverfahren weitergeführt wird, das Franzikus vorerst gestoppt hat.
Das sieht auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, so. »Hat Pius getan, was er tun konnte? Oder hätte er anders handeln müssen?«, fragt er in der Doku. Erst dann könne die Frage der Seligsprechung beantwortet werden.
Das große Manko der Dokumentation: Wegen der Corona-Krise mussten die Wissenschaftler mit Zugang zu den Akten, darunter ein Team um den Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf, ihre Arbeit schon nach wenigen Tagen wieder einstellen. Die Ausbeute an Neuigkeiten ist also begrenzt - und der Titel des Films weckt durchaus falsche Hoffnungen.
Der Film nimmt deshalb einen langen Anlauf und reflektiert auch anhand historischer Aufnahmen Pacellis Werdegang: als Papstbotschafter zunächst in München, wo er nach eigener Aussage von Anhängern der Räteregierung bedroht wird und damit persönliche negative Erfahrungen mit Kommunisten macht. Dann als Nuntius in Berlin, wo er unter anderem an der Aushandlung des Preußenkonkordats von 1929 beteiligt war. Als Kardinalstaatssekretär unter seinem Vorgänger Pius XI. war Pacelli führend an der Enzyklika »Mit brennender Sorge« zur Notsituation der katholischen Kirche in Deutschland beteiligt.
Kernstück der Dokumentation sind die Gespräche mit dem lebendig erzählenden Kirchenhistoriker Wolf. Als eine erste neue Erkenntnis präsentiert der Wissenschaftler und Priester, der seit Jahren in den Vatikan-Archiven forscht, ein Schriftstück von 1942 aus der Feder des damaligen Vatikan-Mitarbeiters Angelo Dell’Acqua. Darin bezweifelt der spätere Kardinal die Glaubwürdigkeit der Berichte einer jüdischen Organisation sowie des damaligen Lemberger Erzbischofs Andrej Szeptyzkyj über die Ermordung einer halben Million Juden innerhalb eines halben Jahrs in der Ukraine.
Dell’Acqua hatte laut Wolf geschrieben, Juden könne man ohnehin nicht trauen und ebenso wenig orientalischen Katholiken, weil sie zu Lügen und Übertreibungen neigten. Diese antisemitische Äußerung ist laut Wolf bewusst nicht in die 1965 publizierte elfbändige Aktensammlung des Heiligen Stuhls über das Pius-Pontifikat aufgenommen worden.
Aus Sicht des Münsteraner Kirchenhistorikers legt das Dokument aber mögliche Gründe offen, warum Pius XII. nicht laut gegen den Holocaust protestiert habe. Es belege einerseits, dass der Heilige Stuhl die Informationen über die Ermordung von Juden durch eigene Quellen hätte bestätigen können. Um den Papst aber davon abzuhalten, sich einem öffentlichen Protest der Alliierten anzuschließen, habe Dell’Acqua die beiden voneinander unabhängigen Zeugnisse als unglaubwürdig hingestellt.
Die Dokumentation »Die Geheimnisse der Akten - Der Vatikan öffnet seine Archive« läuft heute, von 23.30 bis 00.15 Uhr in der ARD.