Roberto Saviano

Hassfigur der Cosa Nostra

Er veröffentlichte 2006 sein Buch »Gomorrha« und nannte öffentlich Namen von Mafiosi: Roberto Saviano lebt seitdem im Versteck. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Ein Leben auf Abruf: Giovanni Falcone, der wichtigste italienische Mafiajäger, wusste immer, dass seine Tage gezählt waren. Viele seiner Mitstreiter wurden umgebracht, einer seiner engsten Weggefährten, der leitende Richter am Obersten Richterrat, Rocco Chinnici, fiel schon 1983 einer Autobombe zum Opfer.

Falcone hat seine begrenzte Lebenszeit mit unbeirrbarem Mut und Hartnäckigkeit genutzt, um die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen, aber auch, um Italien aufzurütteln. Am 23. Mai 1992 wurde der Richter mit seiner Frau nahe Palermo mit 500 Kilogramm TNT-Sprengstoff getötet. Er wurde 53 Jahre alt.

»Ein von sich selbst abwesendes Leben«, so beschreibt Saviano die Existenz von Falcone.

Es ist nur folgerichtig, dass gerade Roberto Saviano einen monumentalen Roman über diesen Mann schrieb, der Italien verändert hat – inzwischen ist der Autor eine nahezu mythische Gestalt und Symbolfigur für den zivilen Widerstand gegen die Cosa Nostra.

Mit dem Buch »Gomorrha« wurde er weltberühmt

Roberto Saviano, als Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters 1979 in Neapel geboren, wurde weltberühmt mit seinem 2006 erschienenen dokumentarischen Roman Gomorrha, der die Strukturen des organisierten Verbrechens der Camorra aufdeckte, die Verbindungen zwischen Politik und Mafia. Seither mit dem Tode bedroht, setzt er versteckt lebend seine publizistische Aufklärungsarbeit fort, in Artikeln, Büchern und Dokumentarfilmen.

Die Parallelen seines Lebens zum Alltag Falcones werden wohl jedem Leser seines neuen Romans deutlich. Saviano hat in seinem autobiografischen Comic Iʼm Still Alive. Im Fadenkreuz der Mafia (Cross Cult 2023, mit Zeichnungen des israelischen Künstlers Asaf Hanuka) Auskunft über sein unfreies Leben im Schatten der Bedrohung gegeben, unter Polizeischutz und in ständiger Angst.

In Savianos Roman zögert Falcone, ein Restaurant zu besuchen, weil die auffälligen Personenschützer die Gäste stören könnten. Ins Kino geht er nur selten, denn dort müssen ganze Reihen abgesperrt werden. Jede Autofahrt kann die letzte sein. »Ein von sich selbst abwesendes Leben«, so beschreibt Saviano die gefährdete Existenz von Falcone – und könnte ebenso sein eigenes Dasein meinen.

Gründliche Recherchen

Ähnlich wie bei Gomorrha und anderen Werken Savianos gingen auch diesem Buch gründliche Recherchen voraus. Erneut gelingt es dem Autor großartig, Faktentreue und packendes Erzählen zu verbinden. Er lässt vor unseren Augen Giovanni Falcone in allen Facetten seiner starken, auch sperrigen Persönlichkeit erstehen, als unbestechlichen Juristen, als Bruder, Ehemann und Freund, der durchaus die Geselligkeit liebt, die kostbaren Momente von Gemeinschaft mit Gleichgesinnten.

Falcone arbeitete nach seinem Studienabschluss 1961 drei Jahre als Anwalt, bevor er 1964 zum Richter ernannt wurde. Er begann seinen Kampf gegen das organisierte Verbrechen, bei dem er Täter zum Brechen ihres Schweigegelübdes brachte. Anfang der 70er-Jahre wechselte er vom Straf- zum Zivilrecht, was er immer als einen wichtigen Schritt betrachtete. Er versuchte, wie es im Buch heißt, die Mafia zu verstehen. Als Untersuchungsrichter baute er in den 80er-Jahren die Mafia-Sonderkommission auf, bündelte die Kräfte der Justiz und fand einen neuen Ansatz der Ermittlung, der im Roman genau rekonstruiert wird: »Obwohl das Gewebe insgesamt verworren ist, gibt es einen Faden, der sie verbindet, immer derselbe.

Er macht viele Windungen, manchmal wird er auch so dünn, dass er nicht zu existieren scheint, er verschwindet, dann wickelt er sich wieder um sich selbst, verknotet sich, verknäult, aber er bleibt doch ein Faden. Ein einziger verfluchter Faden. Und er besteht aus Geld. Entlang der Geldbewegungen zu ermitteln, kann die entscheidende Methode im Kampf gegen die Mafiaorganisationen sein.«

Nachverfolgung der internationalen Geldströme aus dem Drogenhandel

Falcones aufwendige Nachverfolgung der internationalen Geldströme aus dem Drogenhandel, der Verbindungen von Banken, politischen Institutionen, Wirtschaft und Mafia legte das Ausmaß der Verkommenheit, die kriminelle Durchdringung der ganzen Gesellschaft frei. Sie mündete in das wirkungsvolle »Geldwäsche-Gesetz«, das Falcone zur Hassfigur der Cosa Nostra machte.

Falcones größter Erfolg war der Maxi-Prozess von 1986 gegen 400 Täter.

Sein größter Erfolg war der Maxi-Prozess von 1986, in dem rund 400 Täter vor Gericht standen, von denen viele zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Diese neue, skrupellose Verbrechergeneration, auch das zeigt der Roman, schreckte vor keinem Verbrechen zurück, selbst das Ermorden von Kindern war kein Tabu mehr.

Saviano bezieht sich in seinem Roman auf Brechts Stück Galileo Galilei, in dem es heißt: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« Falcone erscheint als genau dieser unfreiwillige Held, den ein Land dringend brauchte, das sich an das Wegsehen gewöhnt hatte.

»Agnostizismus des Gewissens«

Auch dieser »Agnostizismus des Gewissens«, wie Saviano das lange Schweigen der Zivilgesellschaft nennt, ist ein zentrales Thema des großen Romans. Er bietet mit seinen vielen Ebenen und dem Figurenreichtum eine herausfordernde und sehr lohnende Lektüre.

Saviano zeichnet nicht nur das differenzierte Porträt einer bedeutenden und sehr menschlichen Persönlichkeit. Er schildert auch das Erwachen einer Gesellschaft, die ihre bedrohte Demokratie verteidigt. Das macht Falcone zu einem sehr gegenwärtigen Buch.

Roberto Saviano: »Falcone«. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hanser, München 2024, 544 S., 32 €

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