Sie ist jung, sehr jung. Gerade einmal 17 Jahre alt. Und sie weiß nicht, was ein Pogrom ist oder wer dieser Doktor Mengele war, und auch das Datum 20. April sagt ihr nichts. Was schon etwas seltsam ist, auch irritierend, wenn eine Deutsche einen jungen amerikanischen Juden kennenlernt.
Wir sind im Jahre 1980, in Michigan, USA, an der dortigen Hochschule. Christina vom fernen Niederrhein hat gerade ihr Medizinstudium angefangen, alles ist neu und entsprechend verwirrend. Und da ist inmitten der trubeligen Studentenschaft dieser junge Mann, der in der Cafeteria jobbt, hauptsächlich aber Kunst studiert und seltsam dunkle Bilder malt, die er ihr kurz zeigen wird. Christina und Jamie also, der von seiner Familie auch Benjey oder Benjamin genannt wird, während er selbst auf Jamie beharrt, ein erstes, loses Zeichen, dass hier einer um seinen Platz in der Welt ringt.
Vielleicht sind die beiden aufrichtig ineinander verknallt, vielleicht will man eher Sex, vielleicht ist es die gekonnte Mischung aus beidem; vielleicht auch trägt allein das Jungsein durch die Tage und Wochen, aus denen die nächsten Monate werden. Man hört Santana, man hört immer wieder Billy Joel, auch Neil Young liegt im Kassettenrekorder bereit.
Und wie gesagt: Sie ist Deutsche, er ist amerikanischer Jude, die Vergangenheit und die Geschichte sollen keine Rolle spielen, aber sie spielen eine Rolle, irgendwie und auf untergründige Weise. Erst recht, als Jamie sie mitnimmt auf ein Familienfest, irgendwann ist schließlich der Zeitpunkt gekommen, wo man seiner Familie seine Freundin vorstellt und hofft, dass alles gut geht.
Der Vater sagt zur Freundin seines Sohnes: »Morgen haust du ab!«
Es sieht auch vielversprechend aus, am Anfang, eine munter lockere Gartenparty, und Jamies Vater Leon, freundlich und eloquent, nimmt Christina bei Gelegenheit zur Seite, erzählt ihr kurz vor seinem Einsatz damals im Mai 1945 in Dachau, und er hat ihr zwei Dinge zu sagen: »Morgen haust du ab!« sowie »Und lass meinen Benjamin in Ruhe!«.
Die beiden werden sich wiedersehen, Leon und Christina, symbolische sieben Jahre später, unter komplett anderen Umständen, da liegt Leon vor Christina auf dem OP-Tisch. Sie erkennt ihn sogleich, aus einem zertrümmerten Mercedes geborgen, von der Straße abgekommen, bei Düsseldorf. Nach und nach nähern sie sich an, über die Tage und Wochen im Krankenhaus, dann über die Jahre bei wechselseitigen Besuchen, die zuweilen im Eklat enden.
Und doch keimt immer wieder Hoffnung auf, bei aller Härte in den Begegnungen, harte Knochen sind sie beide: Christina, die als einzige Ärztin und Chirurgin unter ihren machohaften wie latent antisemitischen Ärztekollegen um ihren Platz kämpfen muss, und Leon, der es trotz seines mentalen Panzers wenigstens versucht, sich seinen inneren Gespenstern zu stellen.
Seit Mitte der 90er-Jahre arbeitet die Autorin als Ärztin im Saarland
Keloid ist Kristin Rubras Romandebüt. Bisher hat sie, aufgewachsen in den 60er-Jahren in NRW, einen schmalen Band mit Erzählungen veröffentlicht, der leider längst vergriffen ist: Als ich deutsch wurde. Sie hat in Amerika Medizin ebenso wie Creative Writing studiert, sie ging zurück, um wieder auf Deutsch zu schreiben, seit Mitte der 90er-Jahre arbeitet sie als Ärztin im Saarland.
Und allein das trägt mit dazu bei, dass ihr Roman getragen wird von atmosphärischer Dichte, von mehr als vordergründigem Lokalkolorit. Noch dazu ist das Geschehen äußerst kenntnisreich gestaltet, wunderbar wuchtig geschrieben, temporeich und dialogstark und noch dazu dramaturgisch sehr ausgefeilt und klug aufgebaut. Ein Roman, wie er sein soll, liegt vor uns, bei dem einem die handelnden Personen in Windeseile vertraut werden, als würden sie neben einem sitzen, und man hört ihnen zu; wird Zeuge ihrer Auseinandersetzungen, ihrer brüchigen, gefährdeten Zuneigung
Ein »Keloid« ist übrigens eine Art Hautwucherung; eine Verdickung des Narbengewebes infolge einer Verletzung, die von den Betroffenen oftmals als physisch belastend empfunden wird und nur langwierig behandelbar.
Kristin Rubra: »Keloid – vom überleben und lieben«. Edition Stroux, München 2024, 320 S., 26 €