In den Sommerferien 1986 war ich mit einem Interrail-Ticket unterwegs. In Frankreich besuchte ich Paul Celans letzte Ruhestätte auf dem Cimetière parisien de Thiais, in der Mittagshitze eines staubigen Augusttags. Ich erinnere mich an lange Wege auf dem riesigen Friedhof und an die schwarze Grabplatte.
Ich war 16 und wollte mit dem toten Dichter sprechen. Lieber als mit manchem Lebenden. Eine Freundin hatte mir den Band Gedichte II aus der Bibliothek Suhrkamp geschenkt. Das Buch wurde meine Bibel, ich schleppte es überall mit hin. Mein Deutschlehrer sagte, er fände Celans Spätwerk schwer zugänglich. Ich behauptete mit der Arroganz einer Teenagerin, ich sei in der Lage, seine späte Lyrik zu verstehen. Wüsste genau, was der Dichter sagen wollte mit den Zeilen im Band Atemwende: »Es sind noch Lieder zu singen / Jenseits der Menschen.« Aber wie konnte ich meinen, das Gedicht aus Fadensonnen zu begreifen? »NAH, IM AORTENBOGEN / im Hellblut: / das Hellwort. / Mutter Rahel / weint nicht mehr / Rübergetragen / alles Geweinte. / Still, in den Kranzarterien, unumschnürt: / Ziw, jenes Licht.«
Mein erstes Buch über den 1920 geborenen Dichter Paul Celan, das ich in einer Buchhandlung bestellte, war eine Biografie von Israel Chalfen. »Als Landsmann Celans schien mir von Anfang an dem Biographischen eine viel größere Bedeutung zuzukommen, als im allgemeinen angenommen wird. Ich spürte, ehe ich wußte, daß vieles in der Dichtung Celans auf seine in der Bukowina verlebte Kindheit und Jugend hinweist, auf seine alte Heimat, die dem heutigen Leser eine ›unbekannte Landschaft‹ geblieben ist«, schrieb Chalfen in seinem Buch.
Bis heute denke ich, dass Chalfen recht hat. Damals verfasste ich ein langes Schulreferat über Paul Celan, in dem ich ihn leidenschaftlich gegen antisemitische Literaturkritiker verteidigte. Hatten diese Leute nicht dazu beigetragen, dass sich der Dichter (vermutlich) am 20. April 1970, dem Geburtstag Adolf Hitlers, in der Seine ertränkte? Ich wollte mich auf Celans Seite stellen, den Mann, dessen Mutter die Nazis 1942 ermordet hatten. Den jüdischen Dichter posthum in Schutz nehmen gegen alle, die ihm Unrecht zugefügt hatten
Das Buch gibt Einblicke in Celans Liebesleben und Krankengeschichte.
Seit dieser Zeit ist meine Paul-Celan-Bibliothek ständig gewachsen. Nun kommt ein neues Buch dazu, das mit über zwei Kilogramm mehr wiegt als alle anderen: Auf 580 Seiten hat Bertrand Badiou eine Bildbiografie vorgelegt. Der Autor ist Leiter der Paul-Celan-Arbeitsstelle der École normale supérieure in Paris und Herausgeber von Werken und Briefen Celans in Deutschland und Frankreich. Gemeinsam mit Celans Sohn Eric betreut er den Nachlass. Sein Buch präsentiert unbekannte Aufnahmen des Dichters, der der Fotografie mehr als skeptisch gegenüberstand, Ausschnitte aus den bislang unveröffentlichten Tagebüchern, Krankenakten, die sein psychisches Leiden dokumentieren, Briefe an zahlreiche Geliebte, Berichte von Freunden, die einen lebenslustigen, trinkfreudigen Mann beschreiben, und Zeitungsausschnitte.
»Jeder Anekdote und jedem Bild, wie sehr sie auch der Oberfläche verhaftet und gegen Celans apodiktische Aussage ›Echte Dichtung ist antibiographisch‹ zu verstoßen scheinen, ist doch die ethische und poetologische Dimension seines Lebens untilgbar eingeschrieben«, schreibt der Verlag. »Ein Meilenstein in der Celan-Forschung (…), der über Jahre hinaus maßgeblich sein wird«, urteilt der Schriftsteller und Literaturkritiker Helmut Böttiger.
Das Buch beginnt mit einer Fotografie der Mutter Friederike Antschel und präsentiert dazu eine Notizbuchseite Paul Celans aus den 50er-Jahren, wo er mit »Mama« deren Geburtstag vermerkte – samt Interpretation Badious: »Der 1. Dezember ist so präsent in der Erinnerung des Sohnes, dass diese Eintragung beinahe befremdlich erscheinen mag. (…) Auch ist zu bemerken, dass auf die unterstrichene Notiz ein stark abtrennender Strich folgt.«
Ein jähes Ende findet Celans Kindheit mit der deutschen und rumänischen Besatzung von Czernowitz 1941. Die Bildbiografie zeigt die eingezäunten Massengräber in der Nähe von Michailowka, wo die Mutter 1942 von der SS per Genickschuss ermordet wurde, während der Sohn in Arbeitslagern Zwangsarbeit leistete. Die Bildbiografie bildet auch eine frühe Abschrift der »Todesfuge« ab, die in einer früheren Version »Todestango« hieß und zu Paul Celans berühmtestem Gedicht wurde.
Ausführlich lässt Badiou den Jugendfreund Petre Solomon zu Wort kommen, der über Celans Aufenthalt und Liebschaften nach dem Krieg in Bukarest berichtet: »In der langen Liste williger Opfer habe ich nur drei gekannt.« Dann begleitet das Buch Celan auf seinem Weg nach Wien, wo er die Lyrikerin Ingeborg Bachmann kennenlernt, und nach Paris, wo er 1952 die Künstlerin Gisèle Lestrange heiratet.
Die Tagung der »Gruppe 47« von 1952 beschreibt der Dichter zurückhaltend, aber zwischen den Zeilen deutlich.
Die viel diskutierte Tagung der »Gruppe 47« in Niendorf an der Ostsee 1952 beschreibt der Dichter in einem tagebuchartigen Brief an seine zukünftige Frau zurückhaltend, aber zwischen den Zeilen deutlich: »Ich habe laut gelesen, ich hatte den Eindruck, über diese Köpfe hinaus, die selten wohlmeinend waren, einen Raum zu erreichen, in dem die ›Stimmen der Stille‹ noch vernommen wurden … Die Wirkung war eindeutig. Aber Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe, Initiator eines Realismus, lehnte sich auf. Diese Stimme, im vorliegenden Fall die meine, die nicht wie die der andern durch die Wörter hindurchglitt, sondern oft in einer Mediation bei ihnen verweilte, von der ich gar nicht anders konnte, als voll und ganz aus ganzem Herzen daran teilzunehmen – diese Stimme musste angefochten werden, damit die Ohren der Zeitungsleser keine Erinnerung an sie behielten.«
Hochinteressant – wenn auch indiskret – sind die Einblicke in Celans Krankenakten, die Badiou den Lesern gewährt. Der Dichter litt unter psychotischen Episoden und versuchte zweimal, seine Frau umzubringen, bis sie sich von ihm trennte, um den 1955 geborenen Sohn Eric zu schützen.
Seine Frau Gisèle verließ ihn nach zwei Mordversuchen an ihr.
Wie sehr Celan nicht nur Opfer der Verfolgung, sondern auch seiner Erkrankung war, wird durch die Bildbiografie eindringlich vor Augen geführt. Sie zeigt, wie sich »Zahlen- und Farbenwahn« in Celans späten Gedichten niederschlug und wie wenig ihm die Psychiatrie der 60er-Jahre helfen konnte. Nach jeder Episode setzte er vergeblich auf Heilung und Rückkehr zu seiner Frau, bis die Krankheit ihn wieder einholte.
Doch der Celan-Herausgeber, der auf dem Schatz des Nachlasses sitzt, kennt so viele Details, dass er sich manchmal in ihnen verliert. Fast im Tonfall der Heiligenverehrung spricht er über die Arbeitsweise von Celan, der beim Zitieren andere Werke in seinen Gedichten »celanisiert« und »zu etwas Eigenem, Celanhaftem« gemacht habe.
Ärgerlich ist eine hingebungsvolle Beschreibung von Celans »erster erotischer Begegnung mit der Schwester des österreichischen Schriftstellers Herbert Eisenreich«. Denn die erfolgte ausgerechnet an dem Tag im Oktober 1953, als François, der erste Sohn von Paul und Gisèle Celan, 30 Stunden nach seiner schweren Geburt starb: »Anfangs befestigt Brigitta Eisenreich ein Stück weißes Tuch an ihrem Fenster, um ihrem Liebhaber ihre Anwesenheit und Verfügbarkeit anzuzeigen und ihm sechs vergebliche Stockwerke zu ersparen, die es auf dem Weg zu ihrem Zimmer zu erklimmen gilt.« Zu Recht schreibt Andreas Bernard in der »Süddeutschen Zeitung«: »Während Gisèle Lestrange, so ließe sich anfügen, in einem Kreißsaal in der Nähe um ihr Leben kämpft.«
Mehr als einmal habe ich Badious Buch aus der Hand gelegt, um wieder Celan zu lesen – ein wunderbarer Nebeneffekt.
Celans Leben zu kennen, ist unerlässlich für das Verständnis seiner Lyrik. Doch führt zu viel Information nicht zu Verdruss? Ja und nein. Mehr als einmal habe ich Badious Buch aus der Hand gelegt, um wieder Celan zu lesen – ein wunderbarer Nebeneffekt. Und ich habe mir die Neue kommentierte Gesamtausgabe von 2018 bestellt, mit sehr konkreten Hinweisen zur Entstehungsgeschichte der Gedichte. Ein Muss für Celan-Fans.
Darin findet sich eine Analyse des Gedichts »Nah, im Aortenbogen«, die in anderen Worten auch der Literaturkritiker John Felstiner vorgenommen hat. Im Mai 1967 habe Celan das Wort »Ziw« in Gershom Scholems Buch Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala gefunden.
Dort ist die Rede von einem »überirdischen Lichtglanz« (Ziw), in dem sich Gottes Anwesenheit, die Schechina, manifestieren könne. Felstiner schreibt in seiner Celan-Biografie (1997): »Ich erschrak zutiefst, als ich (…) in Celans Exemplar von Scholems Buch (…) folgende Bleistiftzeilen in jiddischer Schrift entdeckte: ›Wet die mamme Rochel weinen / Wet Meschiech nit mer kennen / Dos gewein aribertrogn.‹« Scholems Erörterung habe Celan an ein Lied über Pogrome erinnert: »Hört man zu der mittleren Strophe von ›Nah, im Aortenbogen‹ jetzt diese jiddischen Zeilen dazu, stimmen sie Celans Gedicht auf einen Ton messianischer Sehnsucht. Da das jiddische ›aribertrogn‹ zum hochdeutschen ›rübertragen‹ mutiert, ist das Geweinte jetzt etwas, das nicht mehr ertragen, sondern hinübergetragen, ja sogar verwandelt sein will.«
Seinen Bildband beschließt Bertrand Badiou mit einer skurrilen Geschichte. »Eric Celan und der Verfasser dieser Biografie begeben sich am 18. Januar 2018 auf den Friedhof von Thiais (…). Gisèles Skelett wird als erstes freigelegt (…). Als Erstes wird der Schädel in den nagelneuen Sarg gelegt (…). Dann das Skelett Paul Celans, sein Schädel, größer und ovaler als der Gisèles (…). Wir stehen, bald lächelnd, bald lachend, um unser Aufgewühltsein zu überspielen, am Rande des Grabes, in dem Eric Celan eines Tages begraben werden will. Das ist der Zweck der Exhumierung.«
Es gibt aber eine Frage, die Badiou in seinem Buch nicht beantworten kann. Wo ist der Ehering von Gisèle Celan geblieben?
»Paul Celan. Eine Bildbiographie von Betrand Badiou«. Suhrkamp, Berlin 2023, 580 S., 68 €
Paul Celan: »Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe«. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Suhrkamp, Berlin 2018, 1262 S., 39,95 €