Literatur

Häutungen eines Lebens

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Literatur

Häutungen eines Lebens

Christoph Ribbat rekonstruiert die Biografie der englisch-jüdischen Schriftstellerin Kathrine Talbot alias Ilse Groß

von Alexander Kluy  21.12.2022 08:19 Uhr

Ilse Groß. Ilse Gross. Ilse Pittock-Buss. Kathrine Pittock. Ilse Barker. Kathrine Talbot. Sechs Namen. Eine Frau. Und ein Frauenleben, das ungewöhnlich war, selbst fürs 20. Jahrhundert extra-verknäult.

Im November 1938 ist Ilse Eva Groß 17 Jahre jung, Tochter eines Weinhändlers aus Bingen am Rhein. Sie fliegt von Zürich nach London.

Ihre Eltern schickten sie Jahre zuvor auf ein Internat in Genf und in eine nahe gelegene Hauswirtschaftsschule. Sie spricht sehr gut Französisch, Englisch hingegen nur mäßig. Aber Großbritannien bedeutet: Freiheit. Selbst wenn man versucht, mit falschen Papieren einzureisen. Was gelingt.

HAUSMÄDCHEN In London lernt sie als »domestic«, also Hausmädchen, Englisch, wird entlassen, findet neue Anstellungen. 1940 wird sie als »enemy alien« verhaftet und via Liverpool auf die Isle of Man verfrachtet. 1941 wird sie aus dem Camp entlassen, heiratet den englischen Journalisten Geoffrey Pittock-Buss; später wird auch er einen neuen Namen annehmen und als Howard Kent ein bekannter Yoga-Meister werden. Die Ehe hält nicht lange.

Währenddessen werden Ilses geistig behinderte Schwester und ihre Eltern, die bei ihr in Bingen bleiben wollten, im Holocaust ermordet. Ab 1943 arbeitet sie als Sekretärin des Indian Freedom Campaign Committee, dann für eine Psychoanalytikerin und für eine psychologische Klinik.

Ilse, die Vielleserin, wollte immer schon Schriftstellerin werden. Jetzt verfasst sie ihre erste Erzählung. Sie zieht nach Cornwall, ins Fischerdorf Mevagissey, will einen Roman schreiben. Sie lernt den Lyriker George Barker kennen, von Eliot und Yeats hochgelobt, Bohemien, anarchistisch, katholisch, mit übermächtiger irischer Mutter, trinkfreudig, promisk. Sie verliebt sich in seinen Bruder Kit, einen einäugigen, armen Künstler.

ROMANE 1948 heiraten sie, leben bei Zennor in Cornwall in einfachsten Verhältnissen. 1949 ziehen sie nach New York, Lower East Side, Harlem. Wieder Sekretariatsarbeit, um über die Runden zu kommen. Ilse schreibt weiterhin, nun als Kathrine Talbot, nach einer englischen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts. Bei einem Aufenthaltsstipendium in Yaddo schreibt sie einen Roman, ein großer New Yorker Verlag nimmt ihn an.

Beim zweiten Yaddo-Aufenthalt kurze Zeit später freundet sie sich mit der Poe­tin Elizabeth Bishop an, so schüchtern und asthmatisch wie Kit.

Nächste Station: San Francisco. Dann der zweite Roman The Innermost Cage. 1952 Rückkehr nach London. Das Paar zieht nach Bexley Hill in Sussex in ein kleines Häuschen. Den dritten Roman verlegt Faber & Faber, der wichtigste englische Verlag. Es sind subtile psychologische Erzählgewebe unter dem Einfluss von Henry James und Joseph Conrad.
1962 kommt Sohn Thomas zur Welt; er wird später an einer Kunsthochschule studieren und Künstler werden.

ÜBERSETZUNGEN Ab Mitte der 60er-Jahre kann Ilse immer weniger bei Verlagen und Zeitschriften unterbringen. 1971 druckt die »Paris Review« eine Story: Kurzzeitruhm, der wenig bringt. Sie übersetzt einiges, darunter Gedichte von Robert Gernhardt und einen Roman von Lilli Palmer; in den Achtzigern, als sie verblüffend Queen Elizabeth ähnelt, überträgt sie auch Texte aus dem Französischen. 1988 stirbt ihr Ehemann Kit. Sie verlässt Bexley Hill, zieht nach Midhurst, sieben Kilometer entfernt. Sie schreibt weiterhin, bleibt ungedruckt. Am 21. Mai 2006 stirbt sie.

Christoph Ribbat, Amerikanistik-Professor in Paderborn, hat über Restaurants, Basketball und über Carola Spitz publiziert, eine jüdische Berlinerin, die ab 1940 in New York zur Pionierin von Atem- und Entspannungsübungen wurde.

Auf Kathrine Talbot alias Ilse Groß oder Gross stieß er über Elizabeth Bishop, eine der bemerkenswertesten amerikanischen Lyrikerinnen. Er blieb an einer Fußnote mit dem Vermerk hängen, Bishop habe Briefe gewechselt mit Talbot alias Groß. Er machte Tom Barker, Ilses Sohn, ausfindig, der ihm Zugang zum bis dato unerforschten Nachlass gewährte, kontaktierte andere, Freunde, Archivare, Historiker. Präzise, präg­nant und eingängig, wenn auch zu oft einfachen Satzbau verwendend, erzählt er von den Metamorphosen und vom Leben der Ilse Groß.

Christoph Ribbat: »Wie die Queen. Die deutsch-jüdische Geschichte einer sehr britischen Schriftstellerin«. Insel, Berlin 2022, 224 S., 24 €

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