Eigentlich hatte ich mir geschworen, nichts über Corona zu schreiben. Aber jetzt drängt das Thema sich auf. Das neueste Hobby unter Juden in Israel und anderswo scheint zu sein, sich über Charedim aufzuregen, die sich nicht an die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus halten.
Stimmt, diese Leute handeln dumm und verantwortungslos. Allerdings muss man nicht ultraorthodox sein, um in der aktuellen Lage unvernünftig zu reden und zu handeln. Vermeintlich aufgeklärte liberale Kinder Israels können das auch ganz gut.
RISIKOGRUPPE Seit vier Wochen bin ich in Quasi-Quarantäne und meide soziale Kontakte. Nicht nur, weil das von den Behörden angeordnet wurde – was, nebenbei bemerkt, schon ein guter Grund wäre, übrigens auch halachisch: »Dina demalchuta dina«, heißt es im Schulchan Aruch, »das Gesetz des Landes ist das Gesetz«.
Wobei es das für mich eh nicht gebraucht hätte. Mit meinen 68 Jahren zähle ich zu den Risikogruppen. Und ich habe vor, noch etwas älter zu werden. Nach meinem – zugegebenermaßen lückenhaften – religiösen Verständnis fängt Pikuach Nefesch, das Gebot, Leben zu retten, bei mir selbst an. Man nennt das Eigenverantwortung.
EXPERTEN So weit, so selbstverständlich. Hatte ich gedacht. Und wurde rasch eines Schlechteren belehrt. »Ich verstehe diese Panik nicht. Diese Regulierungsspirale ist Wahnsinn. Jedes Jahr sterben hier 25.000 Menschen an einer Grippe, und keinen kümmert das – keine Ausgangssperren«, schrieb mir der Organisator einer geplanten jüdischen Veranstaltung, nachdem ich meine Mitwirkung abgesagt hatte. Einen ausgewiesenen Experten hatte er auch gleich bei der Hand: »Dr. X, ehemaliger Gemeindevorstand in Y, sagt, dass gesunde Menschen diese Krankheit überstehen. Und der ist selbst schon über 70.« Ich: »In Italien sind allein heute 1000 Menschen gestorben. Wir wissen nicht, wann es hier auch so weit ist.« Replik darauf: »Deutschland hat, gemessen an den Infektionszahlen, die geringste Letalität. Über 90 Prozent werden diese Krankheit unbeschadet überleben.« Meine Antwort: »Und ich möchte gern zu denen gehören!« Ende der Konversation, möglicherweise auch Ende der Bekanntschaft.
MIZWA Vielleicht habe ich gut reden. Meine häusliche Isolation ist vergleichsweise luxuriös. Ich hocke nicht vereinsamt in einer Großstadtwohnung, sondern bin bei einer Freundin und ihrer Familie auf dem Land.
Für sozialen Kontakt ist gesorgt, notfalls mit dem schwarzen Hauskater, dessen dauerndes Maunzen irgendwie Jiddisch nach »Oj Vey!« klingt. Es gibt auch einen großen Garten, wo ich in der Sonne sitzen kann, statt mir in überlaufenen Berliner Parks möglicherweise etwas einzufangen.
»Pack eine Tasche und komm hierher«, hatte die Freundin gesagt, als die Ausgangsbeschränkungen verkündet wurden. Sie ist übrigens keine Jüdin. Den Begriff »Mizwa« kennt sie wahrscheinlich nicht. Aber verstanden hat sie ihn besser als so manche unserer Leute.