Der Gott des Judentums als Herr der Geschichte, der durch historische Ereignisse spricht, als Befreier aus der Knechtschaft, Offenbarer der Tora, als Gott des Bundes, der sich dem jüdischen Volk historisch erfahrbar macht und auf dessen erlösendes Handeln es inmitten seiner Exilserfahrungen hofft – ist das nach den Traumata der jüngsten Geschichte noch ungebrochen aussagbar?
Wie viele andere jüdische Intellektuelle der Nachkriegszeit haben sich der Philosoph Hans Jonas und der Theologe Abraham J. Heschel der ganzen existenziellen Wucht dieser Frage ausgesetzt. Beide waren Emigranten, beide zeitlebens überschattet von den während der Schoa erlittenen Verlusten.
Aus unterschiedlichen religiös-kulturellen Welten stammend, Jonas aus einem stark akkulturierten deutsch-jüdischen Milieu, Heschel hingegen aus dem in der biblischen, rabbinischen und mystischen Tradition verwurzelten polnisch-chassidischen Judentum, stimmten sie doch in einem überein: Die Erinnerung an die Schoa stellt die Menschheit vor eine überwältigende Verantwortung, von der nicht nur die Humanisierung der Geschichte, sondern auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch abhängt.
Hiobsfrage Hans Jonas trug seine Gedanken 1984 in einem »mit Furcht und Zittern« entworfenen Vortrag mit dem Titel »Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme« vor, den er dem Andenken an seine während der Schoa ermordete Mutter widmete. Alle traditionellen Antworten auf die Hiobsfrage schienen ihm unhaltbar angesichts des unvorstellbaren Ausmaßes der Entmenschlichung in den Vernichtungslagern und Gottes Schweigen »durch die Jahre des Auschwitz-Wütens«.
Zerbrochen war auch das Verständnis Gottes als des Herrn der Geschichte: Mithilfe kabbalistischer Ideen entwarf Jonas einen eigentümlichen Mythos – jenen eines ohnmächtigen Gottes, der im Zuge der Erschaffung der Welt das Schicksal seiner eigenen, von Glück und Leid des Lebens zutiefst berührten Gottheit der Freiheit menschlichen Handelns ausgeliefert habe.
Weil Gottes absolute Güte und absolute Allmacht nach der Schoa nicht mehr zusammen gedacht werden könnten, müsse in äußerster Radikalität vom Begriff eines werdenden, leidenden Gottes ausgegangen werden, der in Auschwitz geschwiegen habe, weil er sich im Zuge der Schöpfung »seiner Gottheit [entkleidet habe], um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie«.
Jonas verstand sein Nachdenken über Gottes Ohnmacht als Versuch, trotz der vollendeten Sinn- und Trostlosigkeit der Schoa an der Vorstellung eines gerechten, sich sorgenden Gottes festzuhalten. Dabei ging es ihm jedoch vor allem um eine ganz zentrale ethische Einsicht, die mit der Diagnose zusammenhing, die er 1979 in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung gestellt hatte: Angesichts der Folgen der technologischen Hybris der modernen Gesellschaft sei das Leben auf dem Planeten Erde so unmittelbar bedroht, dass dessen Fortexistenz allein durch eine Ethik der entschiedenen Selbstbegrenzung zu gewährleisten sei. In der Sprache seiner Reflexionen über den Gottesbegriff nach Auschwitz ist dies dramatisch verschärft, wenn er etwa betont, »dass wir jetzt die von uns gefährdete göttliche Sache in der Welt vor uns schützen, der für sich ohnmächtigen Gottheit gegen uns selbst zu Hilfe kommen müssen«.
Tikkun Olam Jüdisch gesprochen, hatte Jonas eine radikalisierte Interpretation der Vorstellung des Tikkun Olam im Sinn, der Fähigkeit und Pflicht des Menschen, als Partner der Schöpfung Gottes an deren Vervollkommnung und Erlösung mitzuwirken. Doch ist der messianische Aspekt dieses Konzepts, die Idee eines Zusammenspiels zwischen Gott und Mensch, hier preisgegeben, da die von dem Philosophen gedachte Gottheit nach ihrer Selbstentäußerung »nichts mehr zu geben hat«. Im Gegenteil, der Mensch ist, wie Jonas in einem früheren Essay schrieb, für das Schicksal der Gottheit verantwortlich, weil sich jegliches Unrecht in Gottes Antlitz einzeichnet und es zu entstellen vermag.
Mit dieser Symbolik dachte er über die transzendente Wirkung der Schoa nach: »Und dies möchte ich glauben: dass Weinen war in den Höhen über die Verwüstung und Entweihung des Menschenbildes; dass ein Stöhnen dem aufsteigenden Schrei unedlen Leides antwortete – und Zorn dem entsetzlichen Unrecht, das an der Wirklichkeit und Möglichkeit jeden so frevelhaft hingeopferten Lebens begangen wurde – jedes von ihnen ein vereitelter Versuch Gottes.« Jonas verband dies mit der Mahnung, »dass seither die Ewigkeit finster auf uns niederblickt, selbst verwundet und verstört in den Tiefen«. Die Pflicht, die daraus folge, bestehe darin, angesichts der gegenwärtigen Bedrohung des Lebens Verantwortung für die Bewahrung von Gottes Schöpfungsabsicht zu übernehmen und so die Schmach von Auschwitz »von unserem entstellten Gesicht, ja vom Antlitz Gottes« wegzuwaschen.
Unkultur Auch Abraham J. Heschels weit traditionellerem Denken zufolge ist nicht Gott für die Schoa verantwortlich, sondern allein die Menschheit mit ihrer Unkultur des fabrikmäßigen Mordens. Neben dem Entsetzen über das Schweigen der Menschen zu Auschwitz finden sich bei dem Theologen jedoch auch Zeichen tiefer Erschütterung über die Gottesfinsternis der Zeit.
Exil Anders als bei Jonas liegt der Akzent jedoch nicht auf Gottes Ohnmacht, sondern darauf, dass immer wieder die Menschheit Gott in die Verborgenheit und ins Exil zwingt: Gottes Wille sei es, »da zu sein, manifest und nahe; aber wenn die Tore der Welt vor ihm zugeschlagen werden, wenn seine Wahrheit verraten wird, sein Wille zurückgewiesen, dann zieht er sich zurück und überlässt den Menschen sich selbst. Gott schweigt nicht. Er ist zum Schweigen gebracht worden. (…) Gott verließ die Welt nicht aus eigenem Antrieb; er wurde vertrieben. Gott ist im Exil«.
Nicht bloß für die Gräuel der Geschichte, sondern auch dafür, dass Gott die Welt sich selbst zu überlassen scheint, sind also die Menschen selbst verantwortlich. Damit aber verwandelt sich auch bei Heschel die quälende Frage nach Gottes Schweigen in eine ethische: Auf welche Weise kann der Mensch »Verantwortung für Gott« übernehmen und helfen, dass sich göttliche Gerechtigkeit und Barmherzigkeit neu durchsetzen? Angesichts der mörderischen Wirklichkeit der Vergangenheit bedürfe es in der Gegenwart des Bewusstseins, dass »in den Höhen ein Schrei der Qual erfolgt«, wenn Menschen Unrecht ausgesetzt sind; notwendig sind aber auch Akte der Gerechtigkeit und Heiligkeit, denn Gott brauche »nicht nur Mitleid und Trost, sondern auch Partner, stille Mitstreiter«.
Erst wenn die Menschheit beginne, dem Willen Gottes gemäß zu handeln, sei, so Heschel in seinem Werk Gott sucht den Menschen (1955), eine wirkliche Antwort auf die Schoa erfolgt: das Vertrauen auf Gott trotz seines Schweigens, der Versuch, Gott zu ermutigen, aus seinem Exil in die Geschichte zurückzukehren – als »Partner und Partisan im Kampf des Menschen für Gerechtigkeit, Frieden und Heiligkeit«. Ohne diese Rückkehr bestünde die beherrschende menschliche Erfahrung in der Welt im existenzialistischen Gefühl einer schrecklichen kosmischen Verlassenheit.
Ebenbildlichkeit Bei Jonas wird Tikkun Olam ganz im Sinne der menschlichen Alleinverantwortlichkeit für das »Schicksal des göttlichen Abenteuers« verstanden, bei Heschel dagegen als Verantwortung für Gottes Gegenwart in der Geschichte kraft einer »Ebenbildlichkeit des Handelns«, die mit zur Vollendung der Schöpfung beiträgt. Heschel war allerdings entschlossen, den Glauben an die Allmacht Gottes als des Herrn der Geschichte sowie an dessen Bundestreue gegenüber seinem Volk Israel nicht preiszugeben.
Seine Deutung von Tikkun Olam nimmt die Welt nach der Schoa als eine zutiefst erlösungsbedürftige Welt wahr, die nicht ohne Gottes Handeln bestehen könne, selbst wenn es Aufgabe der Menschen sei, die Welt erlösungswürdig zu machen: Sein Glaube und seine Werke, sein Beitrag zur Überwindung von Leid, Unrecht, Rassismus und Krieg sind »Vorbereitungen auf die endgültige Erlösung«, die für Jonas eine fremde Vorstellung bleibt. Beide Denker aber, und das eint sie, weigerten sich auf je eigene Weise, sich den während der Schoa entfesselten Kräften des Inhumanen zu unterwerfen, und fordern ihre Nachwelt heraus, ihnen auch Gegenwart und Zukunft nicht zu überlassen.
Der Autor ist Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt.
Der Text entstand im Kontext der vom 16. bis 18. März in Berlin veranstalteten Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden zum Thema »Philosophie und Ethik im Judentum: Zugänge und Fragestellungen«.