Anna Margolin, Kadja Molodowsky, Malka Heifetz Tussman und Rochl Korn waren jüdische Frauen, die aus der Tradition ausbrachen und dazu beitrugen, das männliche Monopol in der jiddischen Literatur zu durchbrechen.
Alle vier wurden Ende des 19. Jahrhunderts geboren, wuchsen im jiddischsprachigen Osteuropa auf, erhielten eine für Mädchen ungewöhnlich gute Ausbildung, wanderten in die USA oder nach Kanada aus, lebten zeitweise in Eretz Israel und wurden durch die Schoa ihrer europäischen Wurzeln beraubt. Sie gelten im englischsprachigen Raum heute als die wichtigsten Vertreterinnen jiddischer Lyrik.
Unterschiede Trotz ihrer Gemeinsamkeiten – alle waren politisch links, griffen soziale Themen auf, sahen sich zwar nicht als Feministinnen, wandten sich aber vehement gegen die Marginalisierung von Frauen – hatten die vier Lyrikerinnen eine sehr unterschiedliche Sicht auf die Welt. Das zeigt eine kürzlich erschienene Auswahl ihrer Gedichte, übersetzt und herausgegeben von Peter Comans.
In den Poemen geht es um das Exil, die verlassene Heimat, aber auch um weibliche Rollenspiele beziehungsweise deren Verweigerung, wie etwa in dem 1929 in New York geschriebenen Gedicht Ich bin gewejn a mol a jingling der in Weißrussland als Rosa Lebensbojm geborenen Anna Margolin (1887–1952):
»Ich war vor langer Zeit ein Jüngling,/ hab bei den Säulen Sokrates gehört./Hab meinen Busenfreund und Liebling,/den schönsten Torso von Athen begehrt./
War Cäsar. Und habe eine helle Welt/gebaut aus Marmor, war ihr letzter/und hab zum Weibe auserwählt/mir meine stolze Schwester./Bekränzt mit Rosen und beim Wein bis spät/hab ich gehört in hochmütigem Frieden/von jemand schwächlichen aus Nazareth/und wilde Reden über Juden.«
Kindheit Malka Heifetz Tussman (1896–1987), in eine chassidische Familie in der Westukraine geboren, ist wohl die poetischste der vier Lyrikerinnen. Natur, Liebe und die unbeschwerte Kindheit auf dem Land spielen eine große Rolle in ihrem Werk. Noch mit 90 Jahren schreibt sie 1977 in Tel Aviv:
»Steh mir bei, dass ich um Himmels Willen nicht sage,/gerade jetzt,/in der Reife meiner Jahre:/Spann die Pferde aus, Mikita,/ich fahr ja doch/nirgendwo mehr hin./Steh mir bei,/dass ich um Himmels Willen/so etwas nicht sage.«
Großen Raum nimmt in den Werken die Schoa ein, die den Frauen ihre Ohnmacht deutlich werden lässt, das Ende aller Normalität und Orientierung. Kadja Molodowsky (1894–1975) beginnt 1946 ihr Gedicht Der mejlech Dowid alejn iz gebliebn:
»Gnädiger Gott,/such dir ein andres Volk,/einstweilen./Wir sind müd vom Sterben und Gestorben./Wir haben kein Gebet mehr./such dir ein andres Volk,/einstweilen./Wir haben keinen Tropfen Blut mehr,/ uns zu opfern./Zu einer Wüste wurde unser Haus./Die Erde ist zu eng für unsre Gräber./Keinen Gesang der Trauer gibt es mehr für uns,/kein Lied der Klage mehr/in unsren alten Schriften.«
Trauer Rochl Korn (1898–1982), die ihre Familie in der Schoa verlor, thematisiert in ihrem Nachkriegswerk die Trauer über den Verlust ihres Volkes und ihrer Lebenswelt. 1947 schreibt sie in Stockholm A naj klejd:
»Angezogen hab ich heut/zum ersten Mal/nach sieben langen Jahren/ein neues Kleid./Doch es ist zu kurz für meine Trauer/und zu eng für mein Leid,/und ein jeder weiß-gläserner Knopf –/wie eine Träne ist er,/die fließt, die Falten hinab,/versteinert und schwer.«
Die Schoa bedeutete auch das Ende der osteuropäischen jüdischen Kultur. Fortan gab es kaum mehr Verfasser oder Leser jiddischer Poesie. Splitter von Licht und Nacht ist eine Hommage an die Dichterinnen und ihre vernichtete Welt.
Peter Comans (Hg.): »Splitter von Licht und Nacht«. Jiddische Gedichte von Anna Margolin, Kadja Molodowsky, Malka Heifetz Tussman und Rochl Korn. Campus, Frankfurt/M. 2013, 452 S., 34,90 €