Der riesige Hype geht auf ihn zurück, Ausharren vor der Neuen Nationalgalerie, Warteschlangen bis in die Nacht hinein. 1,2 Millionen Menschen wollen 2004 in Berlin die gut 200 Kunstwerke aus dem New Yorker Museum of Modern Art sehen. Die Idee dafür - »die Leute haben gesagt, ihr seid geisteskrank« - stammt von Peter Raue.
Der Anwalt und Kunstförderer lockt mit den Freunden der Nationalgalerie die Arbeiten von Beckmann über Cézanne, Duchamp oder Lichtenstein, Matisse und Picasso bis Pollock für sieben Monate nach Berlin. »Mr. MoMa« Peter Raue wird heute 80 Jahre alt.
Sein jüdischer familiärer Hintergrund - Raues leiblicher Vater war Jude - ist ein Antrieb für Raues Engagement in der James-Simon-Stiftung.
Raue lebt zwischen zwei Leidenschaften. Er kann berufliche und private Interessen in perfekten Einklang bringen. Mit Raue ließen sich zwei Begriffe aus seinen beiden Welten erläutern. Auf den täglichen Radfahrten - geschützt unter goldfarbenem Helm - hält er sich »basically« an Verkehrsregeln. Grundsätzlich lässt im Juristendeutsch auch Ausnahmen zu. »Petersburger Hängung« versteht sofort, wer die Wände mit unzähligen Arbeiten (»alles Freunde von mir«) in seiner Wohnung sieht.
»Kultur war für mich eine Insel der Seligkeit. Ich hatte es zuhause nicht ganz einfach«, beschreibt Raue im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur sein Interesse für die Kultur. Er wollte immer Schauspieler werden. »Dieses Theater ist eine krankhafte Leidenschaft von mir.« Bereits mit 14 Jahren habe ihm seine Mutter ein Theaterabonnement in seiner Geburtsstadt München geschenkt.
Mit der Schauspielerei wird es nichts, also entscheidet sich Raue für ein Jurastudium in Berlin. Seine Zulassung als Anwalt ist gerade 50 Jahre her. »Am Anfang hab ich alles gemacht, Scheidungen, Verkehrsunfälle, Strafrecht, ich war zehn Mal in der Woche bei irgendwelchen Amtsgerichten.« Eine völlig andere Zeit, »ich war damals nicht so spezialisiert wie heute«. Heute heißt auch: eine nach ihm benannte Kanzlei mit mehr als 70 Anwälten.
Im Lauf der Jahre kann er sich auf Kunst- und Urheberrecht konzentrieren, spektakuläre Fälle mehren sich. So vertritt Raue den Autor und Theaterregisseur Heiner Müller (1929-1995) gegen die Brecht-Erben wegen Brecht-Passagen im Müller-Stück »Germania 3«. Die erste »wirklich depperte Entscheidung« eines Münchner Gerichts verfolgte ihn »bis in den Schlaf«, der Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht gibt Müller (und Raue) Recht.
Auch von einem anderen Verfahren erzählt Raue sichtlich erfreut: Ein Mandat für das Berghain, in dem er »enorm beeindruckt« eine Nacht verbringt, um sich ein eigenes Bild zu machen.
Auch von einem anderen Verfahren erzählt Raue sichtlich erfreut: Ein Mandat für das Berghain, den international gefeierten Berliner Club. Die umstrittene Frage: ist das Berghain eine Vergnügungsstätte (19 Prozent Mehrwertsteuer) oder ein Ort der Kultur (sieben Prozent). »Es ging um einen Millionenbetrag«, sagt Raue.
Raue verbringt »enorm beeindruckt« eine Nacht im Berghain. »Ich kann darüber nicht reden, wenn ich nicht mal dort war.« Er kommt in den Club, »ohne den Türsteher überzeugen zu müssen, was meine Kinder beeindruckt hat«. Er könnte Urgroßvater der jungen Partycrowd sein. Drinnen sieht er seine These bestätigt. »Das, was sich im Berghain abspielt, ist genauso wie ein Konzert in der Philharmonie«, schildert Raue. »Das Finanzamt hat gesagt: aber die geraten doch in Ekstase. Aber das tue ich bei Mahlers Neunter auch.« Raue gewinnt.
Sein Engagement für die Kultur mündet 1977 im Verein der Freunde der Nationalgalerie, »sicher eine Erfolgsgeschichte«. Bis 2008 sitzt er dem Verein mit 1000 Mark Jahresbeitrag vor. Die hochgesteckten Ziele manifestieren sich in der ersten Erwerbung für das Museum, »diesem spektakulärsten Ankauf«. Für 1,2 Millionen US-Dollar erwirbt der Verein »Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue« des US-Künstlers Barnett Newman. »Es ist das wichtigste Bild, das wir je gekauft haben. Bis heute.«
Ein paar Jahre später sitzt Raue mit Glenn Lowry, dem Chef des MoMA, »in Schöneberg in einer Kneipe«. Lowry berichtet von Plänen, Werke während der Sanierung seines Hauses durch drei, vier Museen wandern zu lassen. »Das schadet den Bildern«, entgegnet Raue, »du musst nach Berlin kommen für sieben Monate«. Die »Wundergeschichte« nimmt ihren Lauf, eine Werbekampagne entfacht den Hype. »Es blieben sieben Millionen Euro Gewinn, obwohl die Ausstellung 15 Millionen gekostet hat, weil sie am Ende rund um die Uhr geöffnet war.«
Soviel Energie und Einfluss ebnet oft den Weg in die Politik. Doch hat das Raue nie gereizt, zuviel Verwaltung. Ein Angebot des früheren CDU-Regierungschefs Eberhard Diepgen für den Posten eines Kultursenators in Berlin lehnt der parteilose Raue ab.
Sein jüdischer familiärer Hintergrund - Raues leiblicher Vater war Jude - ist ein Antrieb für Raues Engagement in der James-Simon-Stiftung. Der Fabrikant lebte nach dem Prinzip, »wer viel Geld verdient, muss es auch in die Gemeinschaft zurückgeben«. Die Hälfte floss in soziale Projekte, die andere Hälfte in Kunst. So verdankt Berlin Simon zahlreiche Badeanstalten ebenso wie eine immense Kunstsammlung bis hin zur Büste der Nofretete.
»Wir müssen die Erinnerung wachhalten«, sagt Raue. Was in Deutschland gerade zu erleben sei, treibe ihm die Tränen in die Augen.
»Das Ziel der Stiftung ist, den Namen Simon in die Öffentlichkeit zu tragen.« Nach langen Mühen gibt es einen spektakulären Erfolg: Der jüngste Bau auf der Berliner Museumsinsel mit dem zentralen Zugang zu den Häusern erinnert als James-Simon-Galerie an den famosen Spender.
Raue engagiert sich auch vor eigener Haustür. »Als wir hier eingezogen sind, gab es in dieser Straße vier Stolpersteine.« Aber die Nazis ließen hier 107 Menschen abholen und ermorden. Raue bestellte für jeden Namen einen Stolperstein und schrieb die Bewohner der Straße an. »Dann haben wir mehr Geld bekommen, als ich bezahlt habe.«
Nun liegen Stolpersteine auch in der benachbarten Straße, wo wegen einer Schule keine Anwohner gefragt werden konnten. »Wir müssen die Erinnerung wachhalten«, sagt Raue. Was in Deutschland gerade zu erleben sei, treibe ihm die Tränen in die Augen. »Je länger die Zeit dahin geht, desto wichtiger wird es.«