Sie waren nahe dran. Vor zehn Jahren schon hatte der italienische Schriftsteller Luigi Galella an der Universität La Sapienza in Rom ein Team von Mathematikern zusammengetrommelt, um eine Software zu entwickeln, die anhand von Stilanalysen herausfinden sollte, wer sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante versteckt. Das Ergebnis: »Mit hoher Wahrscheinlichkeit«, fand der Computer heraus, sei der Schriftsteller Domenico Starnone Autor der Bücher.
Nachdem der Journalist Claudio Gatti unlängst zeitgleich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der New York Times Review Of Books, einem italienischen Wirtschaftsblatt Il Sole 24 Ore und dem französischen Onlineportal medienwirksam publizierte, die Übersetzerin Anita Raja (die mit Domenico Starnone verheiratet ist) verberge sich hinter dem Pseudonym, scheint das Rätsel gelöst.
enthüllung Seitdem aber hagelt es im Internet einen Shitstorm, und die Feuilletons diskutieren munter mit, ob es legitim ist, eine Künstlerin zu enttarnen, wenn sie verborgen bleiben will. In der »Zeit« rügt Iris Radisch den angeblichen »literarischen Enthüllungsjournalismus«. Spiegel Online geht mit Claudio Gatti noch härter ins Gericht und mahnt: »Kein Ruhm für Stalker«. Während Wieland Freund in der »Welt« eine Lanze für den Boulevard bricht und titelt: »Natürlich darf man ein Pseudonym lüften.«
Sicher: Wer sich mit einem Künstlernamen auf das Spiel mit einer geheimen Identität einlässt, darf sich nicht beschweren, wenn Leser und Journalisten versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. Nichts spornt mehr an als ein ungelüftetes Geheimnis. Über die Art und Weise aber, wie Claudio Gatti das getan hat, wird nach wie vor hitzig diskutiert. Allerdings stellt sich jetzt auch für Journalisten die Frage: Wie mit der vermeintlichen Enthüllung umgehen? Aus moralischen Gründen nicht darüber berichten? Oder wie viele es tun, den Enthüllungsjournalismus zwar rügen, im Artikel dann aber trotzdem alle Fakten ausplaudern? Nur so viel steht bisher fest: Die Diskussion um Elena Ferrante hat maßgeblich dazu beigetragen, dass mit ihrem aktuellen Roman Meine geniale Freundin erstmals auch in Deutschland eines ihrer Werke in den Bestsellerlisten auftaucht.
Als Enthüllungsjournalist deckte Claudio Gatti bisher Korruption bei den Vereinten Nationen auf und schrieb über dubiose Machenschaften der US-Investmentbank JPMorgan Chase. Sind investigative Recherchepraktiken aber auch im Literaturbetrieb erlaubt? Gatti jedenfalls folgte der Spur des Geldes, bekam heraus, dass nicht nur die Einnahmen des einst in einem römischen Wohnzimmer gegründeten Verlages Edizioni e/o mit dem Erfolg der Ferrante-Bücher in die Höhe schnellten – auch die Gehaltsüberweisungen an Anita Raja, die als Übersetzerin für Edizioni e/o arbeitet, nahmen in gleichem Maß zu.
geld Gatti fand zudem über Grundbucheinträge heraus, dass Anita Raja im Jahr 2000 (als Ferrantes erster Roman verfilmt wurde) eine Siebenzimmerwohnung in Rom kaufte und im Jahr darauf ein Landhaus in der Toskana. Nachdem ihre Bücher zu Bestsellern wurden, erfolgte der Kauf einer weiteren Wohnung in Rom mit elf Zimmern unter dem Namen von Domenico Starnone. Wie sonst, wenn nicht mit den Tantiemen, sollte eine Übersetzerin, die Schriftsteller wie Christoph Hein und Bertolt Brecht ins Italienische übersetzt hatte, zu so viel Geld kommen? Sie musste die Autorin sein – das glaubt Gatti auch anhand einiger Indizien in Ferrantes Texten belegen zu können.
Was aber weiß man wirklich über Elena Ferrante, jene Frau, die im Verborgenen bleiben will, weil sie in der Nachfolge von Roland Barthes und Michel Foucault die postmoderne These vertritt, wonach ein vollendeter Roman keine Autorschaft benötigt? Seit 1992 hat Ferrante sieben Bücher veröffentlicht, darunter eine vierteilige Saga, die in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde. Auf Deutsch wurden – ohne größere Beachtung – ihre ersten Romane Lästige Liebe, Tage des Verlassenwerdens und Die Frau im Dunkeln publiziert. Erst als vor einigen Wochen die Übersetzung von Meine geniale Freundin erschien, stürmte Ferrante auch hierzulande die Bestsellerlisten.
Über die literarische Qualität ihrer Werke sind sich die Feuilletonisten, wie sollte es auch anders sein, uneinig. Die eine Fraktion feiert Ferrantes Bücher euphorisch als »epochales literaturgeschichtliches Ereignis« (Die Zeit); andere Kritiker wiederum tun Ferrantes Bücher als bloße »Trivialliteratur« und »Frauenliteratur« ab (Süddeutsche Zeitung).
Schoa-Überlebende Die Mutter von Anita Raja hieß Golda Petzenberg und wurde als Tochter einer aus Polen eingewanderten jüdischen Familie in Worms geboren. Mit zehn Jahren flüchtete sie 1937 aus Deutschland vor den Nazis nach Italien. Dort heiratete sie später den Angestellten Renato Raja. 1953 brachte sie Tochter Anita zur Welt. Sollte sie sich wirklich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verbergen, wäre die Bestsellerautorin Jüdin und Kind einer Schoa-Überlebenden.
Noch aber hat sich zur Urheberschaft weder Raja noch ihr Mann Domenico Starnone geäußert, mit dem sie die Bücher auch gemeinsam geschrieben haben könnte. Ein Bekenntnis der Autorin über Twitter stellte sich mittlerweile als Fake heraus. Ferrantes Verlag äußert sich weiterhin nicht zur Identität seiner Autorin.
Fans von Ferrante indes fürchten, dass sie nun keine Bücher mehr veröffentlichen wird. Erklärte sie doch für den Fall einer Enttarnung in einem schriftlich mit dem Spiegel geführten Interview: »Ich würde einfach aufhören zu publizieren.«